Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner
Der junge Orestis hat sich allerdings in diesem Zusammenhang ebenfalls schuldig gemacht und muss sich vor der Jugendkammer dafür verantworten. Meine Freundin Kitt erreichte erfreulicherweise beim Haftrichter die vorübergehende Freilassung des Festgenommenen bis zur Gerichtsverhandlung, da er voll geständig gewesen sei und weder Verdunklungs- noch Fluchtgefahr bestehe. Ich rief bei Kitt Harmsen in Kiel an, um mich bei ihr für ihren beherzten Einsatz zugunsten des armen Teufels zu bedanken. Sie erzählte mir, dass der ›ehrenwerte‹ Mister Mainforth die Stirn besessen habe, durch seinen Rechtsanwalt Dr. Allwardt (oh mein Gott, bitte nicht wieder dieser widerliche Rechtsverdreher!) zivile Nebenklage wegen versuchter Rufschädigung und übler Nachrede als sogenanntes Adhäsionsverfahren zu erreichen, was der Haftrichter – nach Würdigung von Kitts ausführlichen Erläuterungen über die wahren Hintergründe von Marinakis’ Verzweiflungstat – mit dem Hinweis abschmetterte, der sich verunglimpft fühlende Bänker solle sich doch lieber darüber Gedanken machen, dass er und seine Bank die eigentlichen Verursacher des gesamten Schlamassels gewesen seien. Da kann ich nur ganz laut Bravo rufen!
Schließlich berichteten Ferdl und ich von den doch etwas mageren Ergebnissen unserer Rundfrageaktion bei den betroffenen Familien. Waldi meinte dazu, er teile mein Gefühl, dass die drei Fälle einen gemeinsamen Nenner gehabt haben müssen. Wir fragten uns daraufhin allesamt, wie man aus den Fakten irgendeinen roten Faden erkennen könne. Ferdl schlug vor, sämtliche relevanten Daten, die wir gesammelt hatten, in eine Excel-Tabelle zu übertragen. Während sich die anderen daranmachten, ging ich hinunter in die Küche, um gemeinsam mit Abuelita mein Makrelengericht vorzubereiten. Zusammen mit Habibas orientalischem Gemüsereis wurde es, gelinde gesagt, ein voller Erfolg.
Nach einer Verdauungssiesta schlürften wir alle einen Becher Tee im Garten und sahen uns dabei Ferdls Excel-Tabelle an. Die räumliche Nähe der Wohnorte sowie der Zeitraum, in dem die drei Kinder als vermisst gemeldet worden waren, verblieben als auffälligste Gemeinsamkeiten. Waldi räsonierte, dass ihm bei nochmaliger Durchsicht der Akten aufgefallen sei, dass die Berichte der zuerst zuständigen Polizeidienststelle in Glückstadt eher spärlich und lückenhaft daherkamen. Nachdem ich ihn daran erinnert hatte, dass damals Ähnliches anlässlich der Ermittlungen im Fall Glückstädter Doppelmord vorgekommen sei, stimmte er zu, dass ich am Sonntagabend nicht nach Kiel zurückfahren, sondern zunächst Montag früh den Kollegen in der Königstraße von ›Lucky-Town‹ einen erneuten Besuch abstatten solle. Bevor Robert Ferdl zum Bahnhof brachte, genossen wir alle gemeinsam das Abendessen auf der Deichterrasse im Elbmarschen Hof und erlebten dabei ein wunderschönes Abendrot.
Sonntag. Morgenjogging mit Waldi und Robert in Richtung Holstenhof. Beim traditionellen Familientreffen zum ›Morgenmittag‹ bei Onkel Oliver und Tante Madde war die am nächsten Wochenende stattfindende Wattolümpiade in Brunsbüttel15 das Hauptthema. Mein jüngster Vetter und größter Fan Oskar ist aktives Mitglied im hiesigen Sportverein und soll während dieser Veranstaltung zusammen mit seinem Matschhandballteam ›Moorbutschers‹ um den Siegerpokal kämpfen. Natürlich wollen wir deswegen alle dabei sein und ihn und seine Mannschaft lautstark unterstützen. Schließlich verbrachten wir angenehme Plauderstunden im Familienkreis und ich hatte endlich genügend Zeit, all dies bei dir, liebes Tagebuch, ausführlich festzuhalten.
PS: Ich notiere dies nur noch rasch, bevor ich zu Bett gehe. Nachdem Waldi und Robert nach Kiel aufgebrochen waren, sah ich noch einmal sämtliche Akten durch. Ich druckte Ferdls Excel-Tabelle aus und kennzeichnete die übereinstimmenden Orte und Daten mit Markern unterschiedlicher Farbe. Dabei gelangte ich zunehmend zu dem Ergebnis, dass wir nach einem Täter suchen müssen, der sich zeitlich und wahrscheinlich auch beruflich im unmittelbaren Aktionsradius der Familien der Opfer bewegte. Ich bin doch sehr neugierig, ob ich morgen bei den Glückstädter Kollegen mehr darüber erfahren werde!
Nili zieht das Verbindungskabel mit der externen Festplatte vom USB-Port ihres Laptops und deponiert diese im Geheimfach des Schreibtisches neben den beiden älteren Datenablagen ihres Tagebuches. Ist doch Wahnsinn, denkt sie, als sie die drei unterschiedlichen Geräte miteinander vergleicht, wie sich im Laufe der Jahre diese Festplatten zwar in der Größe verkleinert, in ihrer Speicherkapazität jedoch um ein Vielfaches erweitert haben! Sie hatte sich heute wieder einmal ihr Tagebuch vorgenommen, um darin die letzten Ereignisse festzuhalten. Sie tut es damit ihrer Abuelita Clarissa gleich, die schon in ihrer frühen Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut hatte und gelegentlich Tochter und Enkelin daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte. Sie selbst hatte während ihres ersten Gymnasialjahres in Hamburg mit den Einträgen begonnen und in unregelmäßigen Abständen all jene erwähnenswerten Erlebnisse festgehalten, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg hatte sie das Tagebuchschreiben für längere Zeit unterbrochen und erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, wieder damit begonnen. Inzwischen hält sie auch ihre interessantesten Fälle fest.
Während Nili das Geheimfach abschließt, fällt ihr Blick auf den Totenschädel, der sie von der linken Schreibtischecke makaber anzugrinsen scheint. Bei dem Schädel handelt es sich um ein Relikt aus Onkel Suhls Zeiten, in deren ehemaligem Arbeitszimmer sie sich befindet. An diesem Schreibtisch saß schon vor mehr als einem Jahrhundert der neckische Alte und brachte seine pseudowissenschaftlichen Thesen zu Papier.
Als engster Freund ihrer Urgroßeltern vermachte er das Haus, das bis heute seinen Namen trägt, ihrer Abuelita Clarissa und ihrem Opa Heiko zu deren Hochzeit. Irgendwie scheint sein Geist immer noch in diesen Wänden präsent zu sein.
Ein kurzer Schauder überfällt Nili, als sie erneut auf den Schädel blickt: »Du brauchst mich gar nicht so blöd anzugrinsen!«, sagt sie laut. »Ich weiß ja, dass du nicht der Mörder bist!«
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