Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner
der Gegend recherchierten, sagte sie, sie kenne jemanden, der uns womöglich etwas mehr über die verschwundenen Kinder erzählen könne, und stellte uns die äußerst sympathische Lokalblattredakteurin Imke Lührsen vor. Wir baten die adrette Mittdreißigerin mit dem pfiffigen Ausdruck in den Augen an unseren Tisch. Sie konnte sich sehr gut an die damaligen traurigen Ereignisse erinnern. Da wir den Familienvater bei unserem ersten Besuch nicht angetroffen hatten, erfuhren wir nun von ihr, dass ebendieser Alfred Martens bis zu dessen Schließung bei einem Großverlag in Itzehoe als Drucker tätig gewesen war. Die Arbeitslosigkeit ereilte ihn wenige Monate vor dem Verschwinden der kleinen Mia, er fand aber eine neue Anstellung als Lagerist bei einer Meierei in Borsfleth. Diese war allerdings nur von kurzer Dauer, denn der Verlust seiner Tochter warf ihn vollkommen aus der Bahn. Der Selbstmord seiner Ehefrau gab ihm schließlich den Rest. Auch die Journalistin bescheinigte sämtlichen Polizeibehörden aus Glückstadt und Itzehoe, die sich damals auf die Suche nach Mia, kurz darauf nach Pascal und im vorletzten Jahr nach der achtjährigen Alina Kühl aus Herzhorn gemacht hatten, ihr Allerbestes gegeben zu haben. Buchstäblich jeden Stein hatten sie umgedreht, aber der arglistige Entführer habe sich stets derart gut getarnt, dass er bis zum heutigen Tag unbekannt geblieben sei. Gern werde sie uns nach Kräften bei der erneuten Fahndung unterstützen. Als Mutter von zwei Kindern sei sie selbst zutiefst betroffen angesichts der Traurigkeit, die solch ein Verlust für die unglücklichen Eltern bedeute. Ich bedankte mich und bat sie vorerst um äußerste Diskretion, um niemanden aufzuscheuchen. Im Gegenzug versprach ich, auf jedem Fall in der Sache den Kontakt mit ihr zu halten. Dann fragte sie mich, ob ich nicht zufällig jene Kommissarin sei, über die ihr Kollege Jan-Jürgen Ploog vom Oldenmoorer Courier schon mehrmals berichtet hätte. Ich bestätigte ihr, dass Jan-Jürgen mein Vetter sei und ich wisse, dass der Glückstädter Merkur demselben Kieler Verlag angehöre, sie solle sich aber darüber keinen Kopf machen, mit ihm hätte ich des Öfteren ebenso verfahren und es habe stets gut geklappt.
Nachdem wir mit Imke Lührsen die Handynummern ausgetauscht hatten, machten Ferdl und ich uns auf den Weg nach Herzhorn. Zuverlässig führte uns das Navi zum Heim von Jochen und Ellen Kühl am Schlotbohm. Als wir unseren X3 vor der Tür parkten, kam deren nunmehr sechzehnjähriger Sohn Thorben aus Richtung Glückstadt geradelt, wo er das Gymnasium besucht. Er berichtete uns, sein Vater sei in einer nahe gelegenen Ziegelbrennerei für den Versand verantwortlich und seine Mutter, eine gelernte Akustikerin, arbeite in einer Hörgerätefiliale am Glückstädter Markt. Thorben entpuppte sich als aufgeweckter und empathischer Teenager, der uns, nachdem er seine Mutter angerufen hatte, bis zu deren Eintreffen im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer warten ließ. Er erzählte uns, dass der Verlust Alinas vor fast zwei Jahren auch heute noch schwer auf dem Gemüt der Familie liege und alle belaste.
Frau Ellen Kühl, die wenig später eintraf, war eine kleinere, untersetzte und offensichtlich sehr warmherzige Person, augenscheinlich wegen des nagenden Kummers vorzeitig gealtert. Sie äußerte ihre Freude darüber, dass wir uns erneut dem Fall widmen wollten, war sie doch fest davon überzeugt, dass ihre Alina noch am Leben sei. Sie wisse dies mit absoluter Sicherheit, eben weil sie die Mutter des Mädchens sei und Mütter so etwas fühlen! (Wie oft haben wir das schon hören müssen – wenn es denn nur ebenso oft stimmen würde!) Dann kam die obligate Frage, ob auch ich Kinder habe. Ich verneinte, versicherte ihr aber, dass ich ihre Gefühle vollkommen nachempfinden könne, habe ich doch ebenfalls den Verlust eines kleinen Bruders erleiden müssen.
Viel Neues konnten wir nicht von ihr erfahren. Wie wir bereits aus der Akte wussten, hatte die damals nur halbtags tätige Mutter ihre Tochter gegen Mittag von der Schule abgeholt und sie auf deren Wunsch für die kurze Zeit eines raschen Einkaufs im Dorfladen am neben dem Wohnhaus gelegenen Kinderspielplatz abgesetzt. Als sie Alina etwa eine Viertelstunde später wieder abholen wollte, war sie spurlos verschwunden. Nur eine Frau mit zwei kleineren Kindern war vor Ort. Sie berichtete, bei ihrer Ankunft sei niemand da gewesen, sie hätte das Mädchen nicht gesehen. Alinas Schultasche wurde etwa eine Woche später von einem Angler aus dem Herzhorner Rhin gezogen. Polizeitaucher hatten daraufhin einige Tage lang den kleinen Nebenfluss der Elbe akribisch durchsucht, aber keine weitere Spur gefunden. Auch der Blick in das Kinderzimmer verriet uns nichts Aufregendes, nur dass dieses Mädchen offensichtlich sehr gut malen konnte. Die an der Wand befestigten Bilder zeigten für eine noch nicht ganz Achtjährige bereits ungewöhnlich gut proportionierte Gegenstände, Figuren und sogar erkennbare Gesichter. Einem Impuls folgend zückte ich mein Smartphone und fotografierte jene, die mir besonders gut gelungen erschienen. Wir hinterließen unsere Karte, damit die Familie uns jederzeit anrufen könne.
Auf dem Weg zurück nach Oldenmoor machte ich einen kleinen Umweg zum neuen Fischhändler in Glückstadt, von dem ich im Restaurant Rigmor erfahren hatte, dass er gerade frische Makrelen im Angebot habe. Vor einigen Abenden hatte ich mir von einer Fernsehsendung ein afrikanisches Rezept herausnotiert, während ein sympathischer junger Mann die leckere Speise vor der Kamera zubereitete und detailliert über die Zutaten plauderte. Beim Fischhändler wählte ich zwanzig prima aussehende Filets, da ich das Gericht unbedingt zum morgigen Mittag ausprobieren wollte. Es war bereits angebracht, unser wohlverdientes Wochenende zu genießen, als wir wieder im Onkel Suhls Haus eintrafen. Wenig später tauchten auch Waldi und Robert auf, und nachdem wir einvernehmlich strikt vereinbart hatten, heute nicht mehr über die Arbeit zu reden, erlebten wir einen entspannten und unterhaltsamen Abend im kleinen Garten hinter dem Haus. Jeder trug dazu bei, indem er lustige Anekdoten und Begebenheiten aus der Jugendzeit zu Gehör brachte. Bevor wir zu Bett gingen, bereitete ich mit Habibas Unterstützung eine Marinade zu und legte darin die Makrelenfilets über Nacht ein. Wie wonnig war es, anschließend in den verlangenden Armen meines geliebten Waldi zu kuscheln und mit ihm eine bezaubernde Liebesnacht zu erleben!
Sonnabend. Nach unserem obligaten Morningjogging und der darauffolgenden labenden Dusche genossen wir zusammen mit Ferdl und Robert das Frühstück mit den von Habiba mitgebrachten frischen Brötchen, die wir dick mit der von Abuelita in dieser Woche eingekochten leckeren Erdbeerkonfitüre bestrichen. Danach verzogen wir uns in das Arbeitszimmer im Obergeschoss zur Lagebesprechung. Zunächst erfuhren wir, wie die Vernehmung von Mihalis Marinakis verlaufen war. Nachdem dieser sich meiner Freundin Kitt anvertraut hatte, legte er in Anwesenheit der Itzehoer Kollegen sowie Staatsanwältin Frau Dr. Bach ein volles Geständnis ab, dessen Protokollabschrift uns vorlag. Wie er ausgesagt hatte, fühlte er sich so hilflos und war auch von unserer Gerichtsbarkeit derart allein gelassen und deshalb verärgert, dass er meinte, sowieso nichts mehr verlieren zu können. Er hatte diesen Verzweiflungsakt geplant, um den vermeintlichen Verursacher seiner Misere zu bestrafen, indem er dessen Sohn eine Entführung anhängen und damit die Familie in Misskredit bringen wollte. Sein achtzehnjähriger Neffe Orestis studiert an der Norddeutschen Fachschule für Gartenbau in Elmshorn und jobbt zwecks eines kleinen Zuverdiensts stundenweise in einem Internetcafé. Dieser habe ihm bei der Recherche geholfen und durch einen Zeitungsartikel in der Hamburger Mopo erfahren, dass ein gewisser HPM vor zehn Jahren von einer Auszubildenden einer Privatbank wegen sexueller Belästigung angezeigt worden sei. Kurz darauf sei die Anzeige allerdings zurückgezogen worden. Dieser HPM könne kein anderer als Harrison P. Mainforth gewesen sein, weshalb es für ihn ein gefundenes Fressen war, seinen Verderber mit einer ähnlich gelagerten Tat anzuschwärzen. Dafür ließen sie sich auf das Spoofing14-Abenteuer ein und stießen zufällig auf die naive und ahnungslose Anneke Schrader, die im Internet auf der Suche nach einer Bekanntschaft war und auf der Chat-Site namens ›boyfriend‹ surfte. Der pfiffige Orestis missbrauchte dafür die Daten und einige Fotos vom Instagram-Account von Mainforths Sohn Kenneth und setzte dessen gefaktes Profil unter dem Chatnamen ›Kenny‹ ein, um mit Anneke anzubandeln und sie schließlich bis zum Cyber-Grooming anzuködern. Marinakis konnte glaubhaft versichern, dass er niemals beabsichtigt habe, dem Mädchen irgendeinen Schaden zuzufügen oder sie gar sexuell zu nötigen. Er wollte sie lediglich drei Tage lang im Versteck festhalten und danach den Behörden gefälschte Hinweise liefern, die sowohl auf Mainforths Sohn als auch auf das Versteck des Mädchens hinwiesen.
Dass der Junge gegenwärtig in den USA studiert, konnte er nicht wissen. Ebenso konnte er nicht voraussehen, dass sich das junge Mädel vorzeitig befreien und ihn für kurze Zeit außer Gefecht setzen würde.
Übrigens hatten inzwischen auch