Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner
berechtigte Frage nicht aus dem Sinn, ebenso wie die von mir gegebene Antwort.
Jetzt möchte ich dir, liebes Tagebuch, meine wahren Gründe anvertrauen: Wer kann schon die seelische Beklemmung und die Hilflosigkeit einer liebenden Mutter nachvollziehen, die wohlverstandene Wut des Vaters eines plötzlich abhandengekommenen Kindes, die klaffende Sehnsucht im Gemüt der Geschwister im gemeinsamen Kinderzimmer? Mitleid ist eben nur MITgefühl; das LEID kann nur jener selbst empfinden, den es trifft und der es auch selbst ertragen muss! Ich habe kein Kind in die Welt gesetzt, vielleicht weil ich mich auch nach so vielen Jahren immer noch nach meinem kleinen Bruder Hanan-Peres sehne, der jäh aus unserer Mitte entschwand. Klingt verwunderlich, habe ich ihn doch nie gekannt, denn er wurde einige Jahre vor meiner Geburt das Opfer der mörderischen Handgranate eines hinterhältigen PLO-Attentäters.
Gerade als ich diese traurigen Zeilen tippe, wird mir klar, warum ich Polizistin geworden bin. Gemäß unserem Eid sind wir gehalten, dem Recht dieser Bundesrepublik zur Geltung zu verhelfen. Ja, ich muss zugeben, dass es auch oft gerade dieses Recht ist, das im Wege der Gerechtigkeit steht, der sie nach dem Sinn eigentlich dienen sollte. Unser Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland sind ein unglaubliches Wunderwerk, entstanden sie doch in der Nachfolge eines der barbarischsten Unrechts- und Verbrecherstaaten, die diese Welt je erlebt hat. Gerade deswegen fühle ich mich stets verpflichtet, diese dem Blut und der Verzweiflung von fast sechzig Millionen Opfern des Zweiten Weltkrieges gebührende Wiedergutmachung nach Kräften zu verteidigen. Denn schaue ich mich in unserer Geschichte um, ist diese demokratische Bundesrepublik Deutschland trotz all ihrer offensichtlichen Macken samt ihren utopischen linken und vor allem üblen rechten Randerscheinungen das beste Deutschland, das es je gab!
Klingt vielleicht allzu hochtrabend, aber wenn ich erneut diesen Satz lese, drückt er doch sinngemäß meine Gefühle durchaus zutreffend aus. So, jetzt geht’s mir besser. Gute Nacht!
Freitag. Als ich heute Morgen aufwachte und aus dem Fenster blickte, lachte mir wieder ein herrlicher Tag entgegen. Nach meiner üblichen Joggingtour in der frühen und noch frischen Luft genoss ich im Onkel Suhls Haus das gemütliche Frühstück mit Abuelita und Ima. Gegen neun Uhr kam Habiba, um wie an jedem Morgen Mutter zur Hege ihres geliebten Federviehs im Eulenhof abzuholen. Schön, dass sie jetzt einen Führerschein hat und sie daher Ima in vielen Aufgaben entlasten kann. Sie brachten mich zum Holstenhof, wo ich Ferdl aufsammelte, der nach dem gestrigen Abendbrot mit dem X3 zur dortigen Übernachtung gefahren war.
Ich bin mit der Umgebung Oldenmoors bestens vertraut, sodass wir uns gleich auf die B 431 begaben und uns auf in Richtung Glückstadt machten. Wir fuhren durch Brokdorf und kurz darauf entlang der mächtigen, weiß gleißenden Kuppel des Kernkraftwerks, das mit dem daneben befindlichen Schornstein vom Aussehen her einer Moschee ähnelt. Nachdem wir wenig später die Brücke am Störsperrwerk überquert hatten, bogen wir links ab und fuhren schließlich weiter, bis wir in Krempe, der zweitkleinsten Stadt Schleswig-Holsteins, eintrafen. Ferdl hatte die Adresse der Familie Martens in das Navi eingegeben, das uns direkt zu dem bescheidenden Einzelhaus Op de Wisch führte, aus dem die kleine Mia vor drei Jahren verschwunden war. Man hatte den Vorgarten offensichtlich längst dem Wildwuchs überlassen. Mit Beklemmung drückte ich mehrmals den Klingelknopf, aber niemand öffnete uns die Haustür. Eine junge Frau parkte ihren Kleinwagen auf der Garagenauffahrt des Nachbarhauses, und nachdem wir uns ausgewiesen hatten, erfuhren wir von dem Drama, das sich nach Mias Entführung abgespielt hatte. Im Verlauf der vielen Monate, in denen das Kind nicht aufgefunden worden war, wurde Alfred Martens Opfer seines Alkoholkonsums und daraufhin auch arbeitslos; zuletzt verbrachte man ihn in eine Entzugsklinik in der Holsteinischen Schweiz. Die verzweifelte und vergrämte Mutter verfiel zunehmend in Depression und erhängte sich vor etwa einem Jahr.
Wir bedankten uns bei der Frau und ich sah auch Ferdl seine Betroffenheit an. »A so an Schoaß aba ah!«, kommentierte er mit bitterer Stimme, als wir wieder im Auto saßen. »Hams scho recht ghabt, Frau Chefin, was Sie mir gestern auf mei blöde Frag gsagt ham!« Ich antwortete ihm, er habe sehr guten Grund gehabt, mir diese zu stellen, aber wie so oft im Leben käme wohl manch gute Absicht eben leider zu spät! Während er die nächste Adresse in das Navi eingab, murrte er leise vor sich hin, er hoffe, dass wir dort etwas Positiveres erfahren.
Nach wenigen Kilometern erreichten wir die kleine Gemeinde Elskop, die gerade etwas über einhundertsechzig Einwohner zählt. Schnell war die unscheinbare Nebenstraße Süshörn ausgemacht, die von der Dorfstraße abgeht. Besonders hart traf mich der Blick auf das farbige Schild an der Tür, auf dem die Namen der Familie Heger – Eike und Magdalene mit Pascal, Jule und Kevin – in kunterbunten Buchstaben gemalt waren. Frau Heger, eine nette und vollbusige blonde Frau, öffnete die Tür und bat uns herein, nachdem wir uns vorgestellt hatten. Ohne zu fragen, tischte sie uns zwei große Gläser ihres leckeren selbst gemachten Apfelsafts mit perlendem Mineralwasser auf. Ganz anders als die unter die Räder gekommene vorangegangene Familie hatten sie und ihr Ehemann sich gefasst und trotz des erlittenen schmerzlichen Verlustes des Erstgeborenen den Halt nicht verloren. Eike Heger ist Käsereimeister bei der Holstenmelk, Borsfleth. Kevin besucht noch die Volksschule, Juliane kommt demnächst zum Gymnasium. Mutter Magdalene betreibt einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus und beliefert einen Hofladen im Ort. Sie zeigt uns Bilder aus einem Familienalbum. Der hübsche und aufgeweckt blickende Pascal wäre heute neun Jahre alt gewesen. Begeistert erzählt sie von ihrem geliebten Jungen, wie witzig und plietsch er gewesen sei, weit fortgeschritten für sein Alter. Obwohl damals noch im Vorschulalter, hätte er schon schreiben und lesen sowie ein wenig rechnen können. Offensichtlich hegte sie keinen Groll gegen die damaligen Ermittlungskollegen, attestierte ihnen hingegen, diese hätten alles Menschenmögliche getan, um Pascal wiederzufinden. Auf jeden Fall sei sie fest davon überzeugt, dass es ein Fremder gewesen sein musste, der ihren Jungen verschleppt habe. Von selbst wäre ihr Pascal niemals weggeblieben!
Ferdl bemühte sich, sie in seinem besten Hochdeutsch zu fragen, ob sie nach der langen Zeit darüber nachgedacht habe, wer das gewesen sein könne. Sie solle einfach ihren Einfällen freien Lauf lassen und keinerlei Hemmungen haben, auf irgendjemanden – egal wen – hinzudeuten. Frau Heger sah unseren Fachinspektor belustigt an und meinte, er sei doch bestimmt nicht von hier. Ferdl erzählte ihr, woher er komme und weshalb er mit uns zusammenarbeite. »Habe ich mir doch gedacht, Herr Fachinspektor!«, antwortete sie. »Wir haben einige Male am Neusiedler See Segelurlaub gemacht, Ihre Aussprache kam mir daher bekannt vor.« Ja, sehr oft habe sie sich darüber Gedanken gemacht, aber sie traue so etwas niemandem aus ihrer näheren Umgebung zu. Ich fragte daraufhin, ob es jemand gewesen sein könne, der regelmäßig in diese Gegend komme, etwa ein Markthändler, ein Postbote oder ein Logistikfahrer. Sie dachte kurz nach, aber ihr fiel niemand ein. Ich hinterließ ihr unsere Karte und bat sie, mich anzurufen, wenn ihr etwas einfalle. Sie bedankte sich herzlich dafür, dass wir erneut nach ihrem Pascal suchen wollen. Sie gehe nicht mehr davon aus, dass er noch am Leben sei, wäre aber schon sehr dankbar, ihn beerdigen und an seinem Grab trauern zu können. Habe ich mich getäuscht oder waren es tatsächlich zwei Tränen, die mein geschätzter Ferdl sich da ganz verstohlen aus den Augen wischte, während wir zum Dienstwagen zurückgingen. Ich habe allerdings meine eigene Traurigkeit nicht verborgen.
Unser drittes Ziel war nur etwas mehr als drei Kilometer vom aktuellen Standort entfernt. Allerdings war es inzwischen fast Mittag und wir empfanden es als unangebracht, um diese Zeit jemandem einen unerwarteten Besuch abzustatten. So fuhren Ferdl und ich zunächst nach Glückstadt und kehrten in das Restaurant Rigmor am Markt ein. Es ist jenes Lokal, in dem einst die junge und lebensfrohe Saadet Bassir ihre Gäste bediente. Erst fast drei Jahre nach ihrem tragischen Tod war es uns endlich gelungen, den Mann zu entlarven und vor Gericht zu bringen, der für die brutale Tötung der Kellnerin, ihres Geliebten sowie eines Mittäters verantwortlich gewesen war.13 Wegen dieser vorsätzlich und arglistig begangenen schweren Verbrechen verbüßt der ehemalige Apotheker nun diese für mindestens fünfzehn Jahre in der JVA Neumünster mit anschließend angeordneter Sicherheitsverwahrung.
Wirtin Silke Backhus erkannte mich sofort wieder und setzte sich kurz zu uns an den Tisch, während wir auf das bestellte Deich-Lammsteak mit grünen Bohnen und Bratkartoffeln warteten. Sie hat hier mittlerweile