Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner

Makabrer Augustfund im Watt - Manfred Eisner


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Kennzeichen, der schon ziemlich verbeult war und innen auch nicht gerade gepflegt wirkte, aber es soll ja ein Werkstattwagen gewesen sein. Ach, da erinnere ich mich noch an etwas: Am Rückspiegel hing ein kurzer Rosenkranz aus Bernsteinperlen. Daran war eine Messingplakette befestigt, auf der eine Madonna zu sehen war.«

      Dörte überreicht Anneke ihre Karte mit der Bitte, sie möge sich gleich bei ihr melden, sobald sie wieder auf den Beinen sei. Dann verabschieden sie sich und gehen zum Dienstwagen. In diesem Moment kommt ihnen Waldi entgegen, der seinen Passat direkt neben ihrem Fahrzeug abgestellt hat. Kurz informieren sie ihn über Annekes Aussage.

      Waldi fasst zusammen: »Also solltet ihr jetzt nach dem Halter eines älteren weißen Opel Vivaro mit Pinneberger Kennzeichen fahnden, vielleicht sogar in einer Autowerkstatt in der Umgebung Elmshorns. Der Täter könnte zudem ein orthodoxer Christ sein, denn Annekes Beschreibung des Rosenkranzes am Rückspiegel passt zu deren Gebetsketten, den sogenannten Komboskini.«

      »Na ja, wenn das Kennzeichen und die Elmshorn-Geschichte nicht auch wieder Fakes sind!«, unkt Hauke.

      »Trotzdem ist es einen Versuch wert! Na denn schöne Grüße an ›Hein Gröhl‹ und tschüss, liebe Kollegen. Bis heute Nachmittag im Holstenhof!« Nili winkt den Kollegen zum Abschied und steigt in Waldis Auto ein.

      *

      Es sind um die vierzig Personen, die auf dem Hof der Familie Keller zusammentreffen, um Nilis vierzigsten Geburtstag nachzufeiern. Man hat hierzu die große Scheune – in der sonst deren Hofladen die eigenen und andere regionale Erzeugnisse zum Verkauf anbietet – umgestellt und für die Feier entsprechend dekoriert. Vor Familienangehörigen, Kollegen aus Kiel, Oldenmoor und Itzehoe sowie Freunden und Nachbarn überbringt Bürgermeisterin Frau Brigitte Struwe die Glückwünsche des Gemeinderats sowie eine Urkunde des Kieler Innenministers, in denen Nilis Verdienste besonders hervorgehoben und gelobt werden. Die Ausrichtung der Feier ist ein vereintes Geschenk der Familie. In einer gemeinschaftlich koordinierten Aktion haben ihre Abuelita mit Habibas Hilfe sowie Tante Madde und deren Schwiegertochter Corinna unter sachkundiger Beratung von Schlachter Siemsen sechs große Rollbraten zubereitet. Unter Aufsicht von dessen Viez Bruno rösten diese nun paarweise über glühender Kohle auf den drei langsam rotierenden Spießen vor sich hin. Einige Gäste bereichern zudem mit ihren mitgebrachten Kreationen die bunte Auswahl an Salaten. Im Anschluss an den Genuss der leckeren Speisen und einer großen Auswahl an Getränken wird bis spät in die Nacht fröhlich gefeiert und getanzt. Eine Fünf-Mann-Combo aus Kiel spielt auf; es ist das gemeinsame Geschenk der Eltern von Nilis beiden besten Freundinnen Melanie Westphal – ihre Kieler Hausvermieter – und Kitt Harmsen, der Tochter des Oberstaatsanwalts. Ein lokaler Comedian erheitert die Anwesenden mit einem urigen plattdüütschen Vortrag. Darüber hinaus wird Nili mit zahlreichen Präsenten und üppigen Blumensträußen reich beschenkt.

      Nachdem die letzten Gäste gegangen sind, helfen Waldi, Nili und ihre Mitarbeiter den Gastgebern tatkräftig beim Aufräumen und Wiederherrichten ihres Hofladens. Zum Lohn dürfen Ferdl und Timo im Gästezimmer auf dem Holstenhof und Margrit in Habibas Zimmer im Onkel Suhls Haus übernachten, da diese den Rest der Nacht gemeinsam mit ihrem Robert in dessen Zimmer verbringt. Froh und glücklich fallen auch Nili und Waldi in ihr Bett und genießen die sich anschließende innige Liebesnacht.

      *

      Entgegen dem heiligen Ritual fällt nach der üppigen Feier erstmalig Onkel Olivers traditionelles sonntägliches ›Frühmittagessen‹ – sprich: Brunch – der Familie auf dem Holstenhof aus. Ebenso haben Nili und Waldi ausnahmsweise auf ihr obligates Frühjogging verzichtet und gönnen sich ein ebenso gesundes Ausschlafen. Um zehn Uhr treffen alle ihre Kollegen zum gemeinsamen Ausnüchterungsfrühstück im Onkel Suhls Haus ein. Als sie sich gesättigt vom Tisch erheben, bittet Nili Ferdl und Timo in das Arbeitszimmer im Obergeschoss. Gemeinsam surfen sie im Internet und werden zu ihrem großen Erstaunen bereits nach kurzer Zeit fündig. Es gibt ihn tatsächlich: einen gewissen Herrn Harrison P. Mainforth, wohnhaft in Hamburg-Winterhude, Investmentberater. Und ebenso eine Redakteurin bei der Frauenzeitschrift ›Maribelle‹ namens Marie-Louise Weber-Mainforth. Unter deren Namen existiert eine Adresse im Möwenweg in Kampen auf der Insel Sylt. Nili druckt die Informationen aus.

      Bevor sie die Rückfahrt nach Kiel in Ferdls BMW-Oldtimer antreten, verbringen sie einen entspannten Tag. Von der gestrigen Feier sind noch ausreichend Speisen übrig, sodass selbst der sprichwörtliche ›Appetit‹ des Herrn Fachinspektor Csmarits befriedigt werden kann.

      Nili und Waldi werden am Montag erst gegen Mittag in Richtung Kiel fahren, da sie im Fall Anneke Schrader von der Itzehoer Staatsanwaltschaft zur Teilnahme an einer Lagebesprechung um neun Uhr gebeten worden sind. Polizeihauptkommissar Boie Hansen, Dienststellenleiter in Oldenmoor, der samt seiner Mannschaft ebenfalls an Nilis Feier teilgenommen hat, überbrachte ihnen die gefaxte Einladung von Frau Doktor Cornelia Bach. Auch er werde mit zwei seiner Leute zugegen sein.

       2. Anneke

      »Guten Morgen, meine Damen und Herren! Vielen Dank, dass Sie unserer kurzfristigen Einberufung zu dieser Lagebesprechung Folge leisten konnten.« Mit diesen Worten begrüßt der kürzlich neu ernannte zweite Staatsanwalt Doktor Paul Kramer die Anwesenden am Feldschmiedekamp in Itzehoe. »Sie müssen heute mit mir vorliebnehmen, Frau Doktor Bach lässt sich wegen eines anderen wichtigen Termins entschuldigen. Auf der Tagesordnung steht der Entführungsfall der vierzehnjährigen Anneke Schrader aus Oldenmoor, die erfreulicherweise ohne größere Blessuren aus dem Krankenhaus entlassen und wieder der Obhut ihrer Eltern übergeben werden konnte. Ich darf zunächst den zuständigen Leiter der Ermittlungsbehörde, Herrn Kriminaloberrat Stöver, bitten, uns alle eingehend über den Entführungsverlauf sowie den letzten Stand der Suche nach dem Täter zu informieren. Bezüglich der Aufnahme der Vermisstenmeldung reicht Stöver zunächst das Wort an Boie Hansen und dann weiter an seine Kriminalkommissare Dörte Westermann und Hauke Steffens, die das Opfer direkt befragen konnten und abwechselnd aus ihren Berichten referieren.

      Danach spricht Kramer Nili an und fragt sie nach ihrer Einschätzung. »Ich freue mich sehr, dass wir in diesem Zusammenhang wieder einmal mit Ihrer wertvollen Unterstützung rechnen dürfen, Frau Masal. Der Herr Kriminaloberrat ließ ja verlauten, dass Ihre Sonderermittlungsabteilung wegen der Aufklärung einiger bislang leider ungeklärt gebliebener Vermisstenfälle von Kindern und Jugendlichen in unserem Landesgerichtsbezirk Pinneberg, Steinburg und Dithmarschen tätig werden will und Sie deswegen bei der Befragung der Entführten anwesend waren.«

      Nili bestätigt kurz das, was Dörte und Hauke berichtet haben. »Wir haben es hier eindeutig mit der bösartigen Netzkriminalität zu tun, die als ›Cyber-Grooming‹ gekennzeichnet wird. Der Modus Operandi der hier abgelaufenen Internetanbahnung – gezielter Aufbau von arglosem Vertrauen beim potenziellen Opfer – lässt vermuten, dass diese Kontaktaufnahme mit der konkreten Absicht stattfand, ein reales Treffen zwecks sexueller Schändung anzubahnen. Obwohl Anneke Schrader bereits vierzehnjährig ist, handelt es sich um eine Straftat im Sinne von Paragraf 176, Abs. 4, Nr. 3, StGB und sollte dennoch verfolgt werden, weil der Täter es mit Sicherheit erneut versuchen wird. Anneke kann sich angeblich sehr gut an das Aussehen des Täters erinnern und bot ihre Hilfe zur Erstellung eines Phantombildes an. Auch die Überprüfung der Chats auf ihrem Computer könnte zur Identifizierung der IP-Adresse des Versenders hilfreich sein. Betreffend der weiteren Ermittlung schließe ich mich der Sachbeurteilung meines Vorgesetzten Herrn Doktor Mohr an: Die Fahndung sollte auf den Halter eines vom Opfer ziemlich gut beschriebenen Fahrzeugs sowie eventuell auch auf eine Opel-Autowerkstatt in Elmshorn ausgerichtet sein. Zudem deutet ein Indiz auf die wahrscheinliche Zugehörigkeit des Täters zum christlich-orthodoxen Glaubenskreis. Allerdings ergab sich inzwischen eine unerwartete Neuigkeit in Bezug auf die Personalien von Kennys angeblich fiktiver Familie: Es scheint, dass eine solche tatsächlich in Hamburg existent ist. Mein Team konnte inzwischen deren Daten im Netz ausfindig machen und ich denke, man sollte auch diese Personen befragen.« Nili überreicht Doktor Kramer ein Blatt mit deren Namen und Adresse.

      Da offensichtlich sämtliche Anwesenden mit Nilis Vorschlag einverstanden sind, bedankt sich Doktor Kramer bei den Teilnehmern und kündigt an, seine Staatsanwaltschaft werde in der Sache Familie Mainforth die


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