Makabrer Augustfund im Watt. Manfred Eisner

Makabrer Augustfund im Watt - Manfred Eisner


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Hamburg-Winterhude und eines pompösen Reetdachhauses in Kampen auf Sylt. Der Vater sei angeblich Anlagedirektor einer renommierten Privatbank und die Mutter freischaffende Journalistin. Anneke zeigt Dörte und Nili ein auf ihrem Handy gespeichertes Foto des besagten Kenny. Ihnen blickt ein hübscher blonder und freundlich lächelnder Jüngling entgegen, der sich lässig gegen die Motorhaube eines rasanten roten Ford Mustang lehnt. Dann erzählt das Mädchen weiter: »Er schrieb mir immer ganz lieb und ich fand ihn sehr sympathisch. Nach und nach haben wir uns angefreundet und auch ich habe ihm mehrere Fotos von mir, unserem Haus und dem letzten Sommerurlaub auf Mallorca geschickt. Vor etwa einer Woche schrieb er mir, er sei in mich verliebt und wolle mich unbedingt treffen. Wir könnten doch übers Wochenende nach Sylt fahren, er wolle mich dort seinen Eltern vorstellen. Ich würde wahlweise bei ihnen im großen Haus oder in einem Hotelzimmer in Kampen übernachten. Über die Kosten müsse ich mir keine Gedanken machen. Da ich wusste, dass mir meine konservativen Eltern einen solchen Ausflug niemals erlauben würden, erfand ich die Notlüge mit dem Besuch bei Gesches Eltern in Friedrichskoog. Die beiden sind gut mit meinen Eltern bekannt und Gesche hat schon öfter bei uns übernachtet. Ich dachte, wenn Kennys Eltern ebenfalls auf Sylt sind, würde das auf dasselbe hinauslaufen. Niemals hätte ich geahnt, dass alles gefaked war! Wir verabredeten, dass ich Kenny am Freitag nach Schulschluss um vierzehn Uhr am Dithmarscher Platz in Itzehoe treffe. Von da aus würden wir gemeinsam nach Sylt fahren. Als ich dort ankam, war von Kenny keine Spur und ich wurde unruhig. Auf einmal kam ein nett aussehender älterer Mann auf mich zu und fragte mich, ob ich Anneke sei. Er zeigte mir ein Bild von Kenny und einen Ausdruck unseres letzten Chats mit dem vereinbarten Treffpunkt. Er erzählte, Kenny habe unterwegs eine Panne mit seinem Mustang gehabt. Der sei in eine Werkstatt in der Nähe von Elmshorn abgeschleppt worden und werde dort repariert. Er sei ein guter Freund des Werkstattinhabers und Kenny habe ihn gebeten, mich abzuholen und mich zu ihm zu bringen. Ich wunderte mich zwar, dass Kenny mich nicht angerufen hatte, aber da mir der Mann dessen Foto und unseren Chat zeigen konnte, stieg ich arglos in seinen Transporter. Wir fuhren auf die Autobahn in Richtung Süden, was mich weiter beruhigte, da ich ja annahm, dass Kenny von Hamburg aus zu mir auf dem Weg gewesen war. Irgendwann zeigte der Mann auf eine Wasserflasche und bemerkte, ich könne daraus trinken, falls ich Durst habe. Die Flasche war anscheinend noch nicht geöffnet worden, sodass ich ohne Bedenken daraus trank. Dann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder wach wurde, lag ich mit gefesselten Händen auf einer Matratze auf dem Boden eines halbdunklen Raumes.«

      Angesichts dieser Erinnerung kullern plötzlich dicke Tränen aus Annekes Augen. Nili setzt sich zu ihr ans Bett und reicht ihr ein Papiertaschentuch. Dann greift sie nach ihrer Hand. »Ganz ruhig, Anneke! Wenn es dir zu viel wird, können wir gern eine Pause machen oder dieses Gespräch ein anderes Mal fortführen.«

      Anneke wischt die Tränen fort und verneint mit einem Kopfschütteln. »Bitte nicht, Frau Kommissarin! Ich möchte jetzt alles erzählen, damit Sie dieses Schwein so schnell wie möglich finden und festnehmen!«

      »Danke, das wissen wir sehr zu schätzen. Du bist wirklich ’ne tapfere Deern!«, sagt Dörte mit Bewunderung in ihrer Stimme.

      Anneke macht Anstalten, nach dem Glas Wasser zu greifen, das auf dem Nachttisch steht. Nili reicht es ihr und sie trinkt daraus.

      »Du kannst uns ruhig ›Nili‹ und ›Dörte‹ nennen, Anneke. Als Nächstes würden wir gern von dir erfahren, ob dieser Kenny dir seinen Familiennamen genannt hat.«

      Das Mädchen denkt kurz nach, dann sagt sie: »Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, dass er ihn beiläufig erwähnt hat. Es war irgendwas mit ›Mai‹ – ›Maywald‹ oder ›Meifort‹. Tut mir leid, mehr fällt …«

      Nili quittiert das Gesagte mit einem Lächeln. »Macht nichts, ist nicht so wichtig. Wie ging’s dann weiter?«

      »Meine Hände waren zwar mit einem Kabelbinder gefesselt, aber die Beine waren frei, sodass ich mich zuerst auf den Bauch legte und mich dann hochstemmte und so auf die Knie kam. Danach konnte ich langsam aufstehen. Auf einmal war mir übel und ich musste mich gleich mehrmals in einen neben der Matratze stehenden Eimer übergeben. Dazu kamen irrsinnige Kopfschmerzen. Als es mir wieder etwas besser ging, untersuchte ich mein Gefängnis. Das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt und durch die Ritzen kam nur wenig Licht. Ich ging kreuz und quer durch den Raum, er war etwa zehn Schritte lang und acht Schritte breit. Ich bin ein Meter neunundsechzig groß und die Holzbretterdecke über mir befand sich nur etwa dreißig Zentimeter über meinem Kopf. Demnach war der Raum circa zwei Meter hoch. Die Wände waren aus unverputzten Rotsteinen, der Fußboden aus rohem Estrich. Die Luft war feucht und es roch modrig. Ich vermute daher, dass ich in einer alten Kate oder einer Scheune gefangen gehalten wurde. Eine dicke Holztür in der Wand war von außen verriegelt. Irgendwann stolperte ich gegen einen Hocker, auf dem zwei Coladosen und eine Schachtel Pizza standen. Nach der bösen Erfahrung mit der Wasserflasche wagte ich es zuerst nicht, daraus zu trinken. Ich war stinksauer auf mich selbst, weil mich mein Entführer so leicht überrumpelt hatte. Allmählich kam ich zur Ruhe und überlegte, wie ich aus meinem Gefängnis fliehen konnte. Dann hörte ich Motorengeräusche, die näher kamen, und erkannte den Van meines Entführers. Rasch legte ich mich zurück auf die Matratze und stellte mich schlafend. Wie in Zeitlupe öffnete sich kurze Zeit später die Tür und ich sah durch meine zusammengekniffenen Augen, wie der Mann mit leisen Schritten eintrat. Er hielt eine große Stablampe in der Hand und peilte die Lage. Da ich mich nicht rührte und weder die Getränke noch die Pizzaschachtel angefasst hatte, nahm er wohl an, ich sei noch immer bewusstlos. Er kam näher und leuchtete mir ins Gesicht. Ich stöhnte leise und tat so, als würde ich gerade zu mir kommen. Dann beugte er sich über mich und strich mir mit der Hand über die Haare. Er konnte ja nicht ahnen, dass ich seit zwei Jahren regelmäßig in einem Taekwondo-Studio trainiere und dort bereits den braunen Gürtel erworben habe. Als der geeignete Augenblick gekommen war, verpasste ich ihm mit beiden Händen einen harten Kantenhieb an die Kehle und stieß ihn mit angewinkelten Beinen beiseite. Wie ein Kartoffelsack fiel er zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Ich sprang auf und floh durch die offene Tür ins Freie. Nachdem ich durch einen kleinen Wald gelaufen war, kam ich auf eine enge asphaltierte Straße und lief diese entlang, bis ich in der Ferne das inzwischen vertraute Motorengeräusch hörte. Sofort verließ ich die Straße, rannte über eine Koppel und konnte mich gerade noch rechtzeitig hinter eine Mauer ducken, als der Transporter im Schritttempo an mir vorbeifuhr. Ich hatte Glück, dass mich mein Verfolger nicht bemerkte. Dann wartete ich ungefähr eine Viertelstunde und wollte gerade aufstehen, als ich den Wagen zurückkommen hörte. Diesmal fuhr er deutlich schneller. Soweit es mir möglich war, setzte ich meinen Weg über die Felder fort. Irgendwann sah ich einige junge Kühe auf einer kleinen Koppel und entdeckte in der Nähe eine Scheune, in der ich mich auf dem Heuboden versteckte. Ich rieb so lange den Kabelbinder an einer Heugabel, bis das Material nachgab und ich mich befreien konnte. Dann muss ich sofort eingeschlafen sein, denn ich war total ausgebufft. Ich erwachte erst am nächsten Morgen wieder, als zwei Polizisten in die Scheune kamen und meinen Namen riefen. Als ich erfuhr, dass man mich über mein Handy geortet hatte, war ich glücklich, dass ich es vorsorglich in der inneren Gürteltasche meiner Jeans verstaut hatte. Das mache ich immer so, seit mir mein vorheriges iPhone im Gymnasium geklaut wurde. In meiner Panik habe ich während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, meine Eltern oder die Polizei anzurufen.« Anneke seufzte und trank noch einen Schluck Wasser.

      Nili nickt anerkennend. »Das ist eine äußerst ergiebige Schilderung, die du uns da geliefert hast. Danke vielmals, Anneke, du hast uns damit sehr geholfen. Sag mal, würdest du den Mann wiedererkennen?«

      »Diese fiese Fratze werde ich wohl niemals vergessen, Nili, das können Sie mir glauben! Sobald ich hier rausdarf, komme ich sofort zu Ihnen, damit wir ein Phantombild machen können. So was kenne ich von den Tatort-Krimis, die wir uns jeden Sonntagabend zu Hause ansehen!«

      Hauke, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hat, räuspert sich und sagt: »Das finden wir ganz prima von dir, danke, Anneke. Vielleicht können wir danach einen gemeinsamen Ausflug unternehmen, um nach dem Ort zu suchen, an dem dich der Täter festgehalten hat. Eine Frage hätte ich noch, dann lassen wir dich für heute in Ruhe.« Während er das sagt, betritt der Stationsarzt das Krankenzimmer und bedeutet Hauke mit einer einladenden Geste, seine Frage zu stellen. »Kannst du uns etwas


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