Big Ideas. Das Feminismus-Buch. Ann Kramer
Bleibender Einfluss
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhob eine neue Welle von Kämpferinnen ihre Stimme, auf die die Regierungen schließlich reagieren mussten. Während diese Stimmen meist aus der Mittelschicht kamen, steigerte das enorme Wachstum von Unternehmen und Bürokratie den Bedarf an gut ausgebildeten Frauen aus der Arbeiter- und unteren Mittelschicht als Stenotypistinnen, Kopistinnen und Buchhalterinnen, um Aufgaben zu erledigen, die einst Männer ausgeführt hatten. Doch die Unabhängigkeit und Befriedigung aus dieser Arbeit wurde durch schlechte Entlohnung und niedrigen Status herabgesetzt – Frauenarbeit galt weiterhin als zweitrangig.
»In Männern trifft man gegenüber Frauen dieselbe Haltung an wie gegenüber Sklaven.«
Margaret Fuller
Harriet Martineau
1802 in Norwich (Großbritannien) als Tochter eines Tuchhändlers geboren, erhielt Harriet Martineau eine gute Bildung, ihr Leben war jedoch auf die häusliche Sphäre beschränkt, da ihre Mutter traditionelle Geschlechterrollen streng einhielt. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1826 brach Martineau mit der Konvention und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Journalistin, obwohl sie seit ihrem 12. Lebensjahr taub war.
Dank des Erfolgs ihrer Illustrations of Political Economy konnte sie 1832 nach London ziehen, wo sie einflussreiche Denker wie John Stuart Mill traf. Reisen führten sie nach Amerika und in den Nahen Osten. Mit über 50 Büchern und 2000 Artikeln kämpfte sie lebenslang für Bildung für Frauen, Bürgerrechte und Wahlrecht. 1876 starb sie in ihrem Haus im Lake District, das sie selbst entworfen hatte.
Hauptwerke
1832 Illustrations of Political Economy
1836 Philosophical Essays
1837 Society in America
1849 Household Education
DER KAMPF UM GLEICHE RECHTE
1840–1944
1848
In England fordern Karl Marx und Friedrich Engels in Das Kommunistischen Manifest die Befreiung von Männern und Frauen aus dem Kapitalismus.
1849
Elizabeth Blackwell graduiert als erste Ärztin an einer medizinischen Hochschule in den USA.
1851
In den USA fordert die Aktivistin und Abolitionistin Sojourner Truth in einer Rede vor einer Frauenrechtsorganisation in Ohio Gleichberechtigung auch für schwarze Frauen.
1869
In den USA verurteilt die National Woman Suffrage Association (NWSA) den 15. Zusatzartikel, der afroamerikanischen Männern das Wahlrecht gibt, aber nicht Frauen.
1882
In England erlaubt der Married Women’s Property Act Frauen, Eigentum zu besitzen und darüber zu verfügen.
1888
1400 Frauen streiken in einer Streichholzfabrik in England aus Protest gegen geringe Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen.
1893
Als erstes Land der Welt gewährt Neuseeland Frauen das Recht zu wählen.
1903
Die britische Aktivistin Emmeline Pankhurst gründet die Frauenbewegung Women’s Social and Political Union (WSPU), die militant für das Frauenwahlrecht kämpft.
1924
Von dem Kampf der Frauen in den USA für das Wahlrecht inspiriert, gründet die japanische Feministin Ichikawa Fusae die Vereinigung der neuen Frau.
1929
Ein eigenes Zimmer der britischen Autorin Virginia Woolf thematisiert die Unterrepräsentation der Frau in der Literatur aufgrund der ihr fehlenden intellektuellen, sozialen und finanziellen Freiheit.
1936
In Spanien gründen Frauen um Lucía Sánchez Saornil die anarchistische Organisation Mujeres Libres, die für Rechte und Freiheit von Frauen der Arbeiterklasse kämpft.
Im Feminismus gilt die Zeit von Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts als »erste Welle der Frauenbewegung«. Frauen weltweit begannen, ihr Leben kritisch zu hinterfragen und sich zum Ziel zu setzen, Institutionen, die sie unterdrückten, zu ändern. Zunehmend schlossen sie sich zusammen, um Gleichheit zu fordern – vor dem Gesetz, in Bildung, Arbeit und Politik. Ab etwa 1840 führten in den USA und dann in Großbritannien die Forderungen der Frauen in eine breit angelegte Kampagne für das Wahlrecht. Doch der Feminismus war nie eine geeinte Bewegung. Unterschiedliche politische Ziele brachten zahlreiche, oft widerstreitende Strömungen hervor.
Die erste Welle der Frauenbewegung kämpfte an vielen Fronten. In Großbritannien orchestrierten die Aktivistinnen Caroline Norton und Barbara Bodichon Angriffe auf Gesetze, die insbesondere verheiratete Frauen entrechteten. Ihrem Engagement sind das Matrimonial Causes Act von 1857 zu verdanken – das den Mann verpflichtete, eine Untreue seiner Frau vor Gericht zu beweisen, und der Frau ermöglichte, ihren Gatten wegen Brutalität oder Verlassen der Familie vorladen zu lassen – sowie zwei Gesetze, die das Eigentum der Frau regelten. Das zweite von 1882 gewährte ihr das Recht auf Besitz.
Absage an die Häuslichkeit
Frauen stellten auch die gesellschaftlichen Restriktionen infrage, die sie in die Sphäre von Heim und Familie zwangen. Die Engländerinnen Harriet Taylor Mill und Elisabeth Blackwell forderten für Frauen denselben Zugang zu Universitätsbildung, akademischer und angestellter Tätigkeit, die Männern zustand, und setzten sich dafür ein, Frauen größere Chancen zu eröffnen.
Die deutschen Gesellschaftstheoretiker Karl Marx und Friedrich Engels beeinflussten sozialistische Feministinnen wie Clara Zetkin in Deutschland und Alexandra Kollontai in Russland. Diese sahen die Unterdrückung der Frau als eine Klassenfrage. Die Entwicklung der Familie zu einer für den Kapitalismus fundamentalen ökonomischen Einheit zwinge Frauen in die Unterordnung, aus der sie nur eine sozialistische Revolution befreien würde.
Während Frauen der Mittelschicht in westlichen Ländern gegen ein Leben in erzwungener Untätigkeit aufbegehrten, hatten Fabrikarbeiterinnen andere Sorgen. Diese Frauen hatten immer zum Familieneinkommen beigetragen, doch die Industrialisierung hatte sie aus der Arbeit in häuslichem Umfeld in Fabriken gezwungen, wo sie ungeschützt vor Ausbeutung waren. Da die von Männern organisierten Gewerkschaften Frauenarbeit als Bedrohung für ihren Arbeitsplatz ansahen, wurden Arbeiterinnen in den USA, in Großbritannien und in Deutschland aktiv, streikten und gründeten Verbände nur für Frauen.
Rasse, Sex, Wahlrecht
Themen der Rassenzugehörigkeit durchdrangen die erste feministische Welle ab dem 19. Jahrhundert. Schwarze Aktivistinnen wie die ehemalige Sklavin Sojourner Truth wurden doppelt unterdrückt, aufgrund ihrer Ethnie und ihres Geschlechts. Der Kampf gegen die Sklaverei vereinte schwarze und weiße Frauen, doch Ende des Jahrhunderts spalteten sie sich auf, vor allem als in den USA beim Kampf um das Wahlrecht das Frauenwahlrecht zugunsten des Wahlrechts für schwarze Männer zurückgestellt wurde.
Obwohl