hell/dunkel. Julia Rothenburg

hell/dunkel - Julia Rothenburg


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soll. Er weiß ja nicht mal, was er überhaupt erklären soll. Er weiß nur, wie sie ausgesehen hat mit diesem Schlauch in der Nase, durch den ihr Mageninhalt nach außen lief, braun und suppig. Dass ihr Körper jetzt um Beutel erweitert wird, in denen sie ihre Säfte herumträgt, eigene und fremde. Ist sie überhaupt noch sie mit all diesen Plastikkanülen, dem Metallständer, den Flüssigkeiten, die ferngesteuert durch ihren Körper strömen?

      Das kann er Valerie nicht sagen, aber sie versteht vielleicht auch so, sie nickt rhythmisch, die Lippen zusammengepresst.

      Okay, und jetzt?, fragt sie.

      Sie müssen unbedingt was machen, sagt er. Ich hab’s nicht richtig verstanden, aber in dem Zustand kann es nicht bleiben. Also machen sie eine OP. Schon morgen. Sie nennen es Experimental-OP, weil sie noch nicht wissen, was genau sie machen.

      Na toll, sagt Valerie. Ganz toll.

      Man kann auf den Scans eben nicht richtig etwas erkennen, sie müssen erst aufmachen, verstehst du.

      Okay, also man weiß nicht, wie schlimm es ist?, sagt Valerie.

      Nein, sagt Robert.

      Aber man muss die OP dringend machen, sagt Valerie. Also ist es schlimm.

      Ja, sagt Robert.

      Okay, sagt Valerie.

      Sie schweigen. Robert fragt sich, ob Valerie jetzt weinen wird, aber ihre Augen bleiben trocken, nur ihr Kopf zuckt ein wenig.

      Und wie sah sie aus?, fragt sie.

      Schlecht, richtig schlecht.

      Er ist froh, dass Valerie nicht mit war. Und trotzdem hätte er gerne jemanden, der ihm das Bild abnimmt.

      Wollen wir ins Kino gehen?, fragt er.

      Jetzt?, fragt Valerie. Müssen wir das nicht erst besprechen, das mit Mama? Wir können doch jetzt nicht einfach ins Kino gehen.

      Sie wirkt auf einmal ganz aufgebracht. Ihre Wangen werden rot, nur um dann plötzlich wieder fahl zu werden. Sie lässt sich zurücksinken.

      Nein, du hast recht, sagt sie. Bringt ja eh nichts.

      Man weiß es eben nicht, weißt du, sagt Robert. Er merkt, dass er mit ihr redet wie mit einem jungen Pferd. Wahrscheinlich automatisch, weil das früher, ganz früher, auch manchmal funktioniert hat. Da hat sie das auch schon manchmal gebraucht, die Zügel abgeben, wegsacken dürfen.

      Man muss abwarten, dann erst wird man sehen, was geschieht. Jetzt kann man noch gar nichts sagen, verstehst du? Es kann alles genauso weitergehen wie bisher oder schlimmer werden oder was weiß ich, aber man weiß es eben nicht.

      Du hast recht, sagt Valerie.

      Die Farbe ist zurückgekehrt in ihre Wangen. Sie setzt sich auf. Das bringt nichts. Lass uns gehen.

      Jetzt?, fragt Robert.

      Ja, sagt Valerie. War doch dein Vorschlag.

      Okay, sagt Robert.

      Okay, sagt Valerie.

      Robert war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Sputnik, aber nichts hat sich hier verändert. Eigentlich war er auch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Kino. Zuletzt mit Sandra. Das glaubt er zumindest, die Erinnerung ist höchstens noch ein Schatten.

      Zum ersten Mal heute denkt er an Sandra. Gestern hat er ihr eine SMS geschrieben, dass sie heute telefonieren können, aber bisher hat er noch nicht mal auf sein Handy geschaut.

      Er schiebt sich neben Valerie auf die gepolsterte Bank. Im Kino ist es bereits dunkel. Es ist so klein hier, dass man jedes Geräusch hört. Hinten redet ein Pärchen, ein leises Wispern, das ihm irgendwie als Gänsehaut die Arme hochkriecht. Die alten Polster geben ein merkwürdiges Geräusch von sich, fast so, als würden sie Luft ausstoßen.

      Was ist denn das überhaupt für ein Film?, fragt er.

      Valerie zuckt mit den Achseln. Keine Ahnung, irgendeiner halt. Ali fand ihn gut.

      Vor sie setzt sich ein anderes Pärchen, der Mann drückt die Frau fest an sich. Valerie lehnt sich etwas von Robert weg und das Polster knirscht.

      Der Film beginnt, der Ton knackt, jemand hustet.

      Auf einmal kommt Robert das ganze Kino zu eng vor. Immerhin scheint es Valerie zu gefallen, ganz eingerollt sitzt sie da auf ihrer Bankseite, als wäre das hier ihr Wohnzimmer. Er konzentriert sich auf sie, beobachtet sie aus den Augenwinkeln, versucht, seinen Atem zu kontrollieren.

      Als der Film beginnt, muss Robert sich trotzdem bemühen, nicht einfach umzukippen. Wieso hat er das vorher nicht gemerkt? Erst hier, in dieser Konservenschachtel, überkommt es ihn bleiern. Dass er heute schon so viel gesehen hat. Warum bemerkt er eigentlich nie, wenn ihm etwas zu viel ist? Wieso muss er sich immer volllaufen lassen mit Bildern, die ihn dann langsam ertränken? Jämmerlich ist das, wie hilflos er sich selbst beim Leben zuschauen muss und wie hilflos der Mutter beim Sterben.

      Jetzt sei nicht so streng, denkt Robert. Der Tag war gut, nun muss man abwarten. Einfach hinnehmen, was kommt, genau, so hat es die Psychotante doch auch gesagt: hinnehmen und schauen, nicht immer alles planen wollen.

      Valerie guckt ganz gebannt zur Leinwand, das Blau flimmert über ihr weißes Gesicht, zuckt auf ihren Wangen.

      Sie zieht die Lippe dabei zwischen die Zähne. Ist sie geschminkt? Robert weiß es nicht, hier in diesem Licht sehen alle künstlich aus.

      Als sie auf die Straße treten, ist die Nacht lau, auch wenn der Asphalt noch glänzt. Valerie hat glasige Augen.

      Hat dir der Film gefallen?, fragt Robert.

      Nein, sagt sie, verzieht den Mund. Nicht besonders.

      Mir auch nicht, sagt Robert.

      Er war eigentlich ziemlich scheiße, sagt Valerie. Aber Ali hat er gefallen, wiederholt sie.

      Was ist denn das überhaupt für ein Name? Ali. Ist der Türke?

      Problem damit?, Valerie zieht die Augenbrauen hoch.

      Nein. Enttäuscht?

      Haha, sehr witzig, sagt Valerie. Eigentlich heißt er Andreas. Aber alle nennen ihn Ali. Weiß auch nicht, wieso.

      Wie albern.

      Stimmt, sagt Valerie.

      Auf jeden Fall hat er einen scheiß Filmgeschmack, sagt Robert.

      Sie überqueren die Kreuzung. Die gelben Strahler, die über dem Südstern wie Monde schweben, passen zu dieser lauen Luft.

      Wer weiß, sagt Valerie. Vielleicht war schon was dahinter und wir bloß zu dumm.

      So dumm sind wir nicht. Also, du zumindest nicht, sagt Robert, machst doch sogar Abitur.

      Valerie lacht auf, es klingt viel zu zynisch für sie.

      Mal sehen, sagt sie.

      Sie laufen neben der Friedhofsmauer entlang. Das Licht der Straße ist hier fast nur noch eine Erinnerung. Irgendwo klappern ein paar Zweige aneinander, ansonsten ist es ruhig. Valerie schweigt und hält ihre Jacke fest.

      Was ist eigentlich bei dir? Mit deiner Ausbildung?, fragt sie. Kannst du da einfach so wegbleiben? Musst du nicht zurück?

      Robert zuckt mit den Schultern. Hab abgebrochen.

      Er bereut es sofort. Eigentlich wollte er nichts von diesem ganzen Schlamassel erzählen, nicht jetzt zumindest, vielleicht nie. Oder erst, wenn er weiß, was er machen will. Und schon gar keine Lügen.

      Aber Valerie überrascht ihn. Er hatte ein Sandra-Gesicht erwartet. So wie sich immer alle Frauen in Sandra verwandeln, genau dann, wenn er es nicht brauchen kann. Stattdessen schaut sie ihn gar nicht an, nur auf die Straße.

      Okay, sagt sie dann. Hattest du keine Lust mehr?

      Kurz schaut sie zu ihm hin, aber selbst dieser Blick ist nur ein freundliches Vorbeihuschen. Kein Röntgen, nicht so wie bei Sandra, jedes


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