hell/dunkel. Julia Rothenburg
Tür ist nicht abgeschlossen.
Valerie, ruft er. Beim Gehen stößt er gegen die Deckenlampe, das Licht schwankt wie besoffen über die Wände. Es regt sich nichts, auch als er noch mal ruft. Aber dieses Gespräch will er ja ohnehin lieber hinauszögern. Erst mal runterkommen, genau.
Im Bad hört man leise Musik aus ihrem Zimmer, irgendwas mit Beat, dazu das Plätschern seiner Pisse.
Also gut, denkt Robert, du schaffst das.
Neben seinen Füßen zischt ein Silberfischchen unter der Badematte hindurch. Erst jetzt fällt ihm auf, wie lange er schon kein Silberfischchen mehr gesehen hat. In der Wohnung in Marburg gibt es die irgendwie nicht. Aber Sandra putzt ja auch andauernd. So schmutzig ist es hier allerdings auch nicht. Nur etwas unordentlich. Über dem Wannenrand hängt ein rosafarbener BH, muss Valeries sein, die Mutter besitzt so etwas bestimmt nicht. Mit Spitze am Schälchen. Robert schaut schnell wieder weg. Hinten in der Ecke liegt eine leere Klopapierrolle, daneben etwas Staub, ansonsten ist es sauber.
Vielleicht hat das ja auch nichts miteinander zu tun. Vielleicht kommen Silberfischchen einfach aus Berlin und haben Marburg nicht besiedelt, so wie vieles in Marburg noch nicht angekommen ist.
Woher wissen Silberfischchen eigentlich, wann Nacht ist und wann Tag?, fragt sich Robert. Wieso kommen sie nur in der Nacht heraus, obwohl es hier doch kein Fenster gibt, obwohl es hier in unregelmäßigen Abständen stockdunkel ist, tiefschwarz beinahe, und dann grell, direkt angeschienen wird der Boden, da muss so ein nachtaktives Silberfischchen doch fast blind werden. Und denken die Fischchen dann, es wäre wieder Tag?
Das reicht, denkt Robert, du verhakst dich schon wieder. So geht es immer los, er hakt sich an einem Detail fest und kommt dann nicht mehr los, muss alle Ketten, die sich daran anschließen, weiterdenken, muss jeden Gedankenweg gehen, der sich von der einen Idee abzweigt. Tausend Fragen hat er jetzt im Kopf.
Wieso denkt er über so etwas Bescheuertes nach? Als hätte er nicht Wichtigeres zu bedenken. Das ist so typisch für ihn. Aber man muss damit leben, hat die Psychotante gesagt. Jeder Mensch hat seine Stärken und seine Schwächen. Es kommt darauf an, das zu akzeptieren.
Robert drückt die Spülung und schaut nach den Silberfischchen, aber keins ist mehr zu sehen, nicht einmal unter der Matte. Nur der leise Beat aus Valeries Zimmer ist noch da, dazu irgendeine jammernde Frauenstimme. Also los.
Valerie kommt erst beim dritten Rufen aus ihrem Zimmer, die Haare zerzaust. Einen Moment lang fragt sich Robert, ob sie sich schon wieder mit diesem Typen getroffen hat, wer auch immer das ist. Am liebsten möchte er sie schütteln.
Sie blinzelt, ihre Augen sind ganz klein. Sie ist nicht mehr geschminkt. Andere sehen dann jünger aus, verletzlicher. Bei Valerie ist es genau andersherum, erst jetzt sieht man wirklich, dass ihr Gesicht eine Härte hat, nicht mehr diese viel zu helle Haut, diese Puppenaugen.
Hallo, sagt sie, sie spricht leiser als sonst. Bin eingeschlafen.
Wie sie auf den Boden schaut und dann zum Regal, hat sie nun doch etwas Junges.
Ich hab uns Essen mitgebracht, sagt Robert.
Warst du bei Mama?
Valeries Blick bleibt noch immer nicht bei ihm stehen, sondern klebt jetzt am Porzellanengel auf dem Regal. Der Engel glotzt in Roberts Richtung. Nichts erinnert Robert mehr an seine Mutter als dieser Engel. Er ist furchtbar kitschig und passt eigentlich nicht zu ihr, aber irgendwie hat es auch etwas Beruhigendes, dass er nach wie vor dort steht. Ein Beweis dafür, dass es ein ganz frühes Früher wirklich gibt, gegeben hat, dass er sich das nicht einbildet.
Ja, war ich.
Gibt’s was Neues?
Die Schläfrigkeit klebt noch an jedem Wort. Man merkt, dass sie die Frage nur im Halbdämmern stellt. Sie erwartet keine Nachrichten.
Lass uns später darüber reden, sagt Robert. Erst mal was essen, du siehst ziemlich fertig aus.
Valerie folgt ihm ohne Widerspruch, nimmt die Chinabox, die er ihr hinstellt. Danke, sagt sie.
Nach den ersten Bissen ist sie schon wieder munterer.
War anstrengend mit Ivana und Nathalie, sagt sie, schaut ihn ganz lauernd an dabei.
Hast du dich noch an Ivana erinnert?
Robert zuckt mit den Schultern. Klar, die kann man schwer vergessen, sagt er. Dass Valerie und Ivana zu Hause Talkshows nachspielten, war kurz bevor das bei ihm anfing, irgendwie bergab zu gehen. Sie spielten immer im Wohnzimmer, das nervte, und jedes Mal quengelten sie so lange herum, bis Robert sich bereit erklärte, in der Talkshow als Gast aufzutreten. Oft musste er auch den Freund spielen. Ivanas Freund, natürlich. Wenn Valerie nicht hinschaute, streifte Ivana ihn am Arsch, lehnte sich an ihn, drückte ihm ihre Hüfte in die Seite. Ganz aus Versehen, ganz unschuldig. Damals hatte sie noch eine Zahnspange und strähnige Haare. Trotzdem hatte er davon manchmal einen Steifen bekommen, ganz automatisch. Einmal, als sie bei Valerie übernachtet hatte, hatte er im Bad auf ihr T-Shirt gewichst. Es hatte ewig gedauert, den Fleck herauszuwaschen. Am nächsten Morgen hatte sie das T-Shirt wieder an, man sah nichts mehr, und Robert fragte sich, ob er das Ganze nur geträumt hatte, er im Bad, mitten in der Nacht, sein Keuchen an den Fliesen, das Reiben seiner Hand, während man es durch die Wand leise giggeln hörte. Er hatte sich schäbig gefühlt und erregt zugleich, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass man das nun mal so machte, dass das alles ganz genauso gehörte. Und am nächsten Morgen war nichts mehr davon übrig gewesen.
Das war eine komische Zeit, denkt Robert. Er schämt sich, dass er jetzt überhaupt daran denken muss.
Wo war die Mutter eigentlich bei alldem gewesen? Wie kann es sein, dass Robert lauter Bilder von ihr im Kopf hat, aus der Kindheit, auch zu dritt, irgendwo im Sandkasten, Spielplatz, selbst im Zoo, beim Eis essen, Tausende, und dann plötzlich, seit er klar denken kann, seit Valerie andauernd Besuch von Freundinnen hatte und er im Bad onanieren konnte: nichts.
Also, sagt Robert und schaut auf das Essen. Wie schmeckt’s?
Okay, sagt Valerie. Auch nicht schlechter, als wenn Mama kocht.
Wahr, sagt Robert.
Wie geht’s ihr denn?, fragt Valerie. Sah sie noch immer so scheiße aus?
Schon, sagt Robert.
War wieder der komische Arzt da?
Ich hab ihn nicht gesehen. Bist du fertig?
Ja, kann nicht mehr. Valerie schiebt ihre Box in die Mitte des Tisches.
Okay, sagt Robert, schweigt. Er weiß nicht, wie er beginnen soll. Wieso ist auf einmal er in dieser Rolle?
Wollen wir aufs Sofa gehen, da ist es gemütlicher.
Jetzt schaut Valerie misstrauisch.
Irgendwas ist doch, sagt sie. Sag’s einfach gleich.
Na komm. Robert steht auf, führt sie am Arm zum Sofa.
Er weiß, dass er das Ganze unnötig aufbauscht. Aber jetzt, wo sie hier sitzen, ist die Spannung noch viel schlimmer. Jetzt kann er nicht mehr zurück.
Weißt du, sagt er. Es geht ihr wirklich nicht gut.
Jetzt sag doch schon, sagt Valerie, und ihre Augen glänzen im Halblicht.
Es ist komisch, denkt Robert, wie anders sie gerade aussieht. Schön, ohne dass er sagen könnte, was genau an ihr schön ist. Sie hat ein so rundes Gesicht, weich irgendwie, runde Wangen, runde Augen, keine Falten, nichts, was ablenkt. Und trotzdem wirkt es hart, trotzdem scharf gezeichnet.
Es steht dir, so ohne Schminke, sagt er.
Lenk nicht ab, sagt Valerie. Das ist total beschissen, wenn du andauernd ablenkst. Ich bin kein Baby.
Okay, ist ja gut. Robert seufzt. Es geht ihr nicht gut, also, gar nicht. Sie können auf den Scans nicht ganz erkennen, wie sehr der Krebs gewachsen ist, nur dass er gewachsen ist. Zugewachsen quasi. Du weißt ja, dass sie sich häufig übergeben muss. Da kommt kein Essen mehr durch, verstehst du, der Darm ist