hell/dunkel. Julia Rothenburg

hell/dunkel - Julia Rothenburg


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in die Straße einzubiegen, hält schon Ausschau nach den anderen, aber ihre Beine tragen sie einfach weiter, laufen Schritt für Schritt an der Straße vorbei, als wäre da wirklich eine Glaswand, die ihre Schritte lenkt.

      Valerie läuft noch ein bisschen weiter, bleibt dann stehen. Der Marheinekeplatz ist um diese Uhrzeit leer, ein paar Obdachlose sitzen auf den Bänken, beugen sich über eine Nettotüte. Müll quillt aus der Tüte, aus den Stahleimern um sie, türmt sich zu ihren Füßen. Die Spielgeräte sind verwaist, eine Schaukel ruckelt gespenstisch hin und her, während über ihr die Bäume im Wind zittern.

      Valeries Beine laufen weiter, laufen an den Spielgeräten vorbei, vorbei an dem Wasserspielplatz, wo jetzt kein Wasser ist.

      Vor der Markthalle sitzen noch mehr Menschen, einige gekrümmte auf der Bank davor, obdachlos genug, um laut zu reden mit verzerrten Mündern, aber immerhin mit Kaffee in den Händen.

      Zwei davon glotzen sie an, und Valerie muss sich zwingen, ihnen nicht den Stinkefinger zu zeigen, so sehr hasst sie dieses ständige Gegaffe.

      Um diese Uhrzeit ist hier kaum jemand Normales unterwegs. Um diese Uhrzeit ist die Straße ein einziger Hort für merkwürdige Gestalten.

      Endlich weiß Valerie, wohin, ihre Beine wussten es sowieso. Bei ihrem Lieblingscafé macht sie halt. Sie geht dort immer mit Ivana und Nathalie hin, manchmal nach der Schule, neulich sogar zum Mathelernen. Mit Ali ist sie hier nie gewesen. Ali ist niemand, der solche Orte mag.

      Am Tresen ist eine andere Bedienung als sonst. Ein Glück. Was jetzt alles zerstören könnte, wäre eine Frage.

      Valerie sucht sich eine Illustrierte, kleckst mit dem Kaffee darauf, schaut aus dem Fenster. Sie fühlt sich hier wohl, auch wenn aus der Decke blechern Chartsmusik dröhnt, eingewebt in das Schnattern der Frauen am Nebentisch. Eigentlich sind sie viel zu alt für dieses Café, denkt Valerie. Vielleicht verschanzen sich hier aber auch morgens die Alten in den Cafés. Erst nachmittags kommen die Jungen.

      Die anderen, wie sie da in diesem Moment in der Klasse sitzen, sind meilenweit entfernt. Valerie spürt eine Verlorenheit, die gleichzeitig Glück ist. Als hätte das alles einen Grund. Weil sie hier ist vielleicht, weil sie die neueste Zeitschrift liest, ohne wirklich zu lesen, und anstatt ihrer Gedanken die Chartsmusik durch ihr Hirn dudelt, eine fröhliche Welt, in die sie sich einfach einfügt.

      Irgendwann guckt die Bedienung komisch, weil Valerie ihren Kaffee nicht trinkt, aber auch nichts Neues bestellt. Es sind zwei Stunden vergangen, aber Valerie merkt es nur daran, dass der Kaffee jetzt wirklich kalt ist. So kalt schmeckt man erst das ganze Aroma, widerlich, bitter, pelzig, gallig. Es gibt einen Grund, warum alle Kaffee immer nur heiß trinken.

      Valerie steht auf, legt Geld auf den Tisch. Ihr ist ein bisschen schwindelig, aber niemand schaut hin, als sie zur Tür wankt.

      Draußen ist es kühl, es tröpfelt. Ihr Gesicht fühlt sich feucht an. Sie wünscht sich trotzdem, sie könnte ewig so laufen. Immer geradeaus oder einfach sonst wohin.

      Das Wasser im Wasserspielplatz ist immer noch ausgeschaltet. Vielleicht, weil jetzt Herbst ist oder weil es ohnehin regnet. Kinder sind sowieso keine da. Valerie ist froh, die paar alten Männer auf der Bank, die dasitzen, so hohl, als spürten sie den Regen nicht, der doch so laut auf ihre Tüten platscht, die stören sie nicht weiter.

      Ob die wohl früher auch schon da waren? Ob Valerie hier gespielt hat als Kind, die Mutter neben den Männern auf der Bank? Das kann sie sich nicht vorstellen, aber irgendwo gespielt haben muss sie. Sie erinnert sich nicht daran, natürlich nicht, als Kind ist man dumm und glücklich und man erinnert sich deswegen später an absolut nichts. Aber es gibt Fotos von ihr auf dem Spielplatz mit ihrer Mutter, die damals eine andere war, und manchmal war auch ein Mann auf den Bildern.

      Valerie geht schneller.

      Robert sitzt noch immer am Küchentisch, schaut auf, als sie hereinkommt.

      Oh, hallo, sagt er, runzelt die Stirn.

      Ihr Rucksack rumst zu Boden. Schule war langweilig, sagt sie.

      Robert mustert sie, nickt dann aber. Willst du dich erst ausruhen, oder wollen wir gleich los?

      Lieber gleich, sagt sie. Dann haben wir es hinter uns.

      Okay, sagt er. Ich schreib ihr nur kurz, dass wir kommen.

      Gemeinsam U-Bahn zu fahren ist komisch. Jetzt, wo sie sich gegenübersitzen, die Knie berühren sich beinahe, weil Robert so lange Beine hat, ist da wieder diese Peinlichkeit. Robert räuspert sich, es geht fast unter im dröhnenden Schnurren des Wagens.

      Das Abitur, was?, sagt er, und Valerie nickt, beide nicken sie.

      Manchmal denke ich, es war dumm, dass ich das einfach geschmissen habe. Das eine Jahr hätte ich ja eigentlich auch noch durchhalten können. Vor allem nach der Extrarunde vorher.

      Valerie nickt weiter. Was soll sie auch sonst tun.

      Aber du ziehst es echt durch, oder? Trotz allem?

      Valerie hört auf zu nicken. Roberts Gesicht ist in diesem U-Bahn-Licht seltsam offen. Obwohl es so grell ist, sind seine Augen fast schwarz. Wie sie solche Gespräche hasst. Dieses furchtbar eintönige Protokoll, dessen Ergebnis nichts als Langeweile ist.

      Wie läuft es denn bei dir? Mit der Ausbildung, fragt sie.

      Robert schaut aus dem Fenster, wo man die anderen Fahrgäste sieht, weil das Draußen hier nur das Innere spiegelt.

      Geht so, sagt er. Wir dürfen die Station zum Umsteigen nicht verpassen.

      Ja, sagt Valerie, stimmt.

      Der Weg zum Krankenhaus Westend ist so windig, dass es sie beinahe von den Beinen reißt. Sie reden kein Wort, trotzdem kommt Valerie alles ungeheuer laut vor. Der Wind heult, dazwischen das Rauschen der Autos, Schleifgeräusche im Ohr.

      Die Klinik muss man fast übersehen, weil neben dieser Straße alle Häuser klein und unbedeutend sind, weil die Häuser keine Geräusche machen, sondern einfach nur dastehen, ewig gleich, egal wie laut der Wind ihnen um die Ohren zischt.

      Sie gehen durch einen Torbogen, in dem drei Menschen an den Wänden kauern. Ein Kind steht am Eingang und schaut ihnen ganz ängstlich entgegen.

      Wie immer, sagt Robert, und Valerie nickt, sie biegen nach links.

      Man muss durch einen Flur laufen, der eher an das Foyer eines Museums erinnert, vorne sogar ein paar Schaukästen, der Boden ist voller ausgeblichener Teppiche, dazwischen braune Fliesen, grau gehen hinten die Fahrstuhltüren auf. Jemand im Rollstuhl fährt an ihnen vorbei. Der Fahrstuhl schließt sich, gerade als sie davorstehen.

      Na toll, sagt Robert.

      Im ersten Stock steht ein Bett im Gang, dahinter schließt und öffnet sich die Glastür. Ein Arzt kommt ihnen entgegen, nickt, schaut sie an und wieder weg, schaut sie noch mal an, ist dann verschwunden.

      Komisch, sagt Valerie.

      Robert zuckt mit den Schultern. Gestern hat mich auch schon keiner beachtet.

      Ich hasse Krankenhäuser, sagt Valerie. Aber das stimmt nicht ganz. Es gibt keinen Ort, der Valerie unnahbarer vorkommt. Die Eiskönigin unter den Gebäuden. Wie könnte man etwas hassen, das man nicht einmal zu greifen kriegt?

      Na komm, wir machen schnell, sagt Robert.

      Sie laufen nebeneinander den Gang entlang. Irgendwie erinnert Valerie das an früher, aber an nichts Konkretes, eher so ein allgemeines Früher. Er war schon immer größer als sie, und wenn sie nebeneinander gingen, machte sie seit jeher größere Schritte, ganz automatisch. Ihre Arme berühren sich beim Laufen, es ist das einzige Geräusch hier. Sie drückt ihre Jacke versuchsweise etwas enger an ihn. Ratsch ratsch. Wieso muss in Krankenhäusern eigentlich alles so dröhnen?

      Robert klopft an, Valerie wartet. Diesen Moment, wenn die Tür noch geschlossen ist, hasst sie. Immer dann erst fällt ihr auf, dass sie eigentlich gar nicht weiß, was sie sagen soll. Und dass es jetzt zu spät ist, wieder wegzugehen.

      Die Mutter


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