Unerschütterlich im Glauben. Fulton J. Sheen
wie kann ich dann dich sehen und leben? Ich würde versengt wie Gras, würde ich der Glut deines Antlitzes ausgesetzt.« Im höchsten Punkt dieser Spannung zwischen dem Auftrag Gottes und der armen schwachen menschlichen Verwirklichung gibt es jedoch immer die Ausgießung der Liebe Christi. Er lässt es auch nicht bei einem von uns zu, dass wir über unsere Kraft versucht werden; und selbst in unseren Schwächen liebt er uns, denn der Gute Hirte liebt die verlorenen Hirten ebenso sehr, wie er die verlorenen Schafe liebt. Die Spannung ist vielleicht am größten für jene, die ihn mit vollkommener Hingabe zu lieben versuchen.
Allerdings ist meine Art, mein Leben in Übereinstimmung mit meiner Berufung zu sehen, anders als die Art, wie andere es womöglich betrachten. Deshalb gibt es nicht nur Autobiografien, sondern auch Biografien. Und selbst Biografien können sich voneinander unterschieden: Das Leben Christi, das Johannes uns in seinem Evangelium hinterlassen hat, würde sich deutlich unterscheiden vom Leben, das Judas aufgeschrieben hätte, wenn er zur Feder statt zum Strick gegriffen hätte. Biografien werden meistens erst verfasst, wenn jemand berühmt geworden ist – oder wenn jemand, der nicht so bekannt ist, um über ihn zu reden, bekannt genug wird, dass über ihn geredet wird.
Shakespeare mutmaßte:
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
das Gute wird mit ihnen oft begraben.5
Wenn es allerdings dazu kommt, dass über einen Bischof geschrieben wird, der auf seinem bischöflichen Stuhl ein ganzes Stück über den Leuten sitzt, besteht die Gefahr, dass man ihn nur in seiner Pracht und Würde sieht. Um noch einmal Shakespeare zu zitieren:
Der Mensch, der stolze Mensch,
In kleine, kurze Majestät gekleidet,
Vergessend, was am mind’sten zu bezweifeln,
Sein gläsern Element, wie zorn’ge Affen,
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Dass Engel weinen.6
Wenn ein Mensch in der Welt einen gewissen Grad an Popularität erlangt hat, so wie der Herr sie mir in reichlichem Maß gegeben hat, wird man noch über die Nachspeisen hinaus gerühmt und gepriesen. Zu meinem 84. Geburtstag schrieb mir ein kleiner Junge: »Ich hoff, Sie haben einen schönen Geburtstag. Ich hoff, Sie werden lange leben, und ich hoff, Sie werden eines Tages Papst sein.«
Am Ende eines langen Lebens stellt man im Allgemeinen fest, dass zwei Dinge gesagt wurden: Dinge, die zu schön sind, um wahr zu sein, und Dinge, die zu schlimm sind, um wahr zu sein. Übertrieben wird im Hinblick auf die Anerkennung, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Laien den Priester als das sehen, was er ja tatsächlich sein soll: »Ein zweiter Christus«.
Der Herr erwählt nicht die Besten. Ich wurde nicht berufen, weil Gott in seiner göttlichen Weisheit sah, dass ich besser sein würde als andere Männer. Sogar die Liebe Gottes ist blind. Tatsächlich kenne ich Tausende Männer, die es viel mehr als ich verdient hätten, Priester zu sein. Häufig wählt er die schwachen Werkzeuge, damit seine Macht offenbar werden kann. Sonst würde es so scheinen, als würde das Gute durch den Ton geschehen und nicht durch den Geist. Der Herr ritt auf einem Esel nach Jerusalem. Er kann durch New York und London und durch den Mittelgang einer Kathedrale in einer menschlichen Natur kommen, die nicht viel besser ist. Der Herr schätzt jene nicht hoch ein, die in den Beliebtheitsumfragen obenan stehen: »Wehe, wenn euch alle Menschen loben.«
Das scheint das Evangelium in ein abstoßendes Licht zu rücken, doch was unser Herr tatsächlich meinte, war: Wir könnten anfangen zu glauben, was in der Zeitung steht, und uns von dem hinreißen lassen, was die Welt über uns denkt. Je mehr wir uns allerdings die populären Einschätzungen zu eigen machen, desto weniger Zeit verbringen wir auf den Knien mit der Gewissenserforschung. Die äußere Welt füllt sich mit so viel Aufmerksamkeit und Rampenlicht, dass sie uns das innere Licht vergessen lässt. Lob lässt in uns häufig den falschen Eindruck entstehen, dass wir es verdienen würden. Unsere Reaktion darauf verändert sich im Laufe der Jahre: Zu Beginn ist man verlegen und verwirrt; dann finden wir es toll, während wir gleichzeitig behaupten, es würde von uns abperlen wie Wasser vom Rücken einer Ente – aber die Ente liebt Wasser! Im letzten Stadium schließlich neigt man zu Zynismus: Man fragt sich, was derjenige, der einen da lobt, eigentlich will.
Und dann gibt es noch mein Leben, wie Gott es sieht. Hier fällt das Urteil vollkommen anders aus. Der Mensch liest im Gesicht, Gott hingegen liest im Herzen. David wurde nicht wegen seines guten Aussehens auserwählt, Elias wurde nicht wegen seines Aussehens zurückgewiesen. Unser Herr hat eine zweifache Sichtweise auf uns: einerseits, wie er uns geplant hatte; andererseits, wie wir seiner Gnade entsprochen haben. Gott ist ein großes Risiko eingegangen, als er uns den freien Willen gab – ebenso wie Eltern, die ihen Kindern Freiheit zugestehen. Der Prophet Jeremia erzählt eine sehr schöne Geschichte über den Unterschied zwischen dem Ideal, das Gott für jeden von uns hat, und der Art, wie wir uns selbst entwickeln. Gott schreibt die letzte Grabinschrift – nicht auf ein Denkmal, sondern auf die Herzen. Ich weiß nur, dass diejenigen, die von Gott mehr Talente empfangen haben, von Gott strenger beurteilt werden. Wenn ein Mensch viel empfangen hat, wird viel von ihm erwartet, und je mehr einem Menschen anvertraut wurde, desto mehr kann von ihm als Erstattung verlangt werden. Gott hat mir nicht nur eine Berufung gegeben, sondern er hat mich mit Chancen und Gaben ausgestattet, was bedeutet, dass er am Jüngsten Tag viel Ertrag erwarten wird.
Ich weiß nicht, wie Gott urteilen wird, aber ich vertraue darauf, dass er mich mit Barmherzigkeit und Erbarmen betrachten wird. Ich weiß jedoch, dass es im Himmel drei Überraschungen geben wird. Erstens werde ich einigen Menschen begegnen, die ich dort nie erwartet hätte. Zweitens wird es einige geben, die ich erwartet hätte, die aber nicht da sein werden. Und trotz meinem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit dürfte die größte Überraschung von allen diejenige sein, dass ich dort sein werde.
4 Dies ist der Titel des englischen Buches. Im Deutschen wurde der Titel Unerschütterlich im Glauben gewählt. Dieser Titel bezieht sich auf das Leben von Fulton Sheen (Anm. d. V.).
5 William Shakespeare, Maß für Maß, 2. Akt, 2. Szene (Anm. d. V.).
6 Ebd.
2. Das Modellieren des Tons
Ton muss modelliert werden, und das geschieht vor allem in der Familie, die heiliger ist als der Staat. Das bestimmende Modell meiner frühen Kindheit war die Entscheidung meiner Eltern, dass all ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten sollten. Dieser Entschluss rührte nicht daher, dass sie selbst gut ausgebildet waren, sondern das Gegenteil war der Fall. Mein Vater kam nie über die dritte Klasse hinaus, weil sein Vater ihn auf der Farm brauchte. Meine Mutter ging nur acht Jahre lang zur Schule – zu einer Zeit, als es für sämtliche Klassen nur einen Lehrer gab.
Beide Großeltern mütterlicherseits stammten aus Croghan, einem kleinen Dorf in der Grafschaft Roscommon in Irland in der Nähe der Stadt Boyle. Der Vater meines Vaters (den ich nicht kennenlernte, da er starb, als ich noch ganz klein war) war ebenfalls in Irland geboren. Die Mutter meines Vaters stammte jedoch aus Indiana. Leider starb auch sie, bevor ich alt genug war, um sie kennenzulernen.
Mein Vater, Newton Sheen, und meine Mutter, Delia Fulton, besaßen ein Eisenwarengeschäft in El Paso, Illinois, rund 45 Kilometer von Peoria entfernt. Eines Tages schickte mein Vater den Laufburschen des Ladens in den Keller, um Waren hochzuholen. Der Junge – der später als Bankangestellter in der Stadt arbeitete – sah, als er die Treppen heraufkam, dass sein Vater durch die Eingangstür hereinkam. Der Junge rauchte eine Zigarette, was für einen Jungen seines Alters damals buchstäblich einem Anathema7 gleichkam. Aus Angst vor seinem Vater warf er die Zigarette unter die Stufen. Sie fiel in ein Fass, das zweihundert Liter Benzin enthielt, und die gesamte Ladenzeile von El Paso brannte ab. Vielleicht um den Verlust wettzumachen und den Lebensunterhalt zu verdienen, zog mein Vater daraufhin auf eine Farm um, die er von seinem Vater geerbt