Unerschütterlich im Glauben. Fulton J. Sheen
ein Seminar über Bergsons Philosophie, der damals der einflussreichste französische Denker war. Ein anderer Kurs behandelte den amerikanischen Pragmatismus. Einmal bestellte er mich in sein Büro und fragte: »Haben Sie die Gifford Lectures von Dr. Alexander gelesen?« Ich verneinte. Darauf er: »Nun, sie sind schon vor mindestens dreißig Tagen veröffentlicht worden. Ich rate Ihnen, beide Bände zu lesen und dann an die Universität von Manchester in England zu gehen, um sich mit Dr. Alexander zu besprechen.« Dr. Alexander hatte von König George V. eine Medaille für seine philosophische Abhandlung über Raum, Zeit und Gottheit erhalten. Seine These besagte, dass die Gottheit höhere Seinsstufen hervorbringe.
Ich fragte Dr. Alexander, ob er mir die Erlaubnis erteilen würde, einen seiner Kurse zu belegen. Ich erinnere mich nicht, ob er antwortete »Es geht nur um Kant« oder »Es ist nur Phrasendrescherei«. Jedenfalls lehnte er ab. Für den Nachmittag lud er mich zum Tee ein. Als ich zur vereinbarten Zeit zu dem Gebäude kam, sah ich außen einen Zettel hängen: »Heute Nachmittag zur Teezeit wird Dr. Alexander mit Dr. Sheen von der Universität Löwen diskutieren.« Ich hatte noch gar keinen Doktortitel von der Katholischen Universität Löwen und hatte auch nicht die Qualifikation, die Universität zu vertreten. Aber in der Mitte des Raums war bereits der Teetisch für Dr. Alexander und mich hergerichtet. Hunderte Studenten saßen an diversen Teetischchen im Raum, um der Diskussion zu folgen. Dr. Alexander begann: »Nun, was möchten Sie gerne wissen?« Ich merkte zum ersten Mal, wie es sein muss, wenn man der Allwissenheit Gottes zu Füßen sitzt. Ich antwortete: »Sie glauben nicht daran, dass Gott unendlich vollkommen ist, nicht wahr?« Er fragte: »Haben Sie meine Bücher gelesen?« Ich sagte: »Ja, zweimal.« »Nun«, sagte er, »wenn Sie sie mit einem gewissen Grad an Intelligenz gelesen haben, dann müssten Sie eigentlich wissen, dass ich durchaus daran glaube, dass Gott vollkommen ist.« Ich fragte: »Darf ich Ihnen Ihre Sicht der Dinge erklären, wie ich sie verstanden habe?« Und dann erklärte ich, dass Dr. Alexanders Auffassung für mich zu sein schien, dass Gott ein Drang oder Antrieb sei, der sich immer eine Ebene über der aktuellen Evolutionsebene befinde. »Als es nur Raum und Zeit gab, war Gott eine Chemikalie. Als Chemikalien entstanden, war Gott das Ideal einer Pflanze. Als Pflanzen im Universum auftauchten, war Gott der Idealzustand eines Tieres. Als es Tiere gab, war Gott der Idealzustand des Menschen. Jetzt, da es den Menschen gibt, ist Gott ein Engel. Eines Tages werden wir diesen Zustand erlangen. Gott wird sich weiterhin vorwärtsbewegen als der Antrieb des Universums.« Und er sagte darauf: »Ja, das ist meine Theorie; Sie haben sie ausgezeichnet verstanden.« Ich antwortete: »Nun, Dr. Alexander, Ihr Gott ist offenbar nicht vollkommen, sondern befindet sich auf dem Weg zur Vollkommenheit. Ein vollkommener Gott ist ein Gott, dem in jedem einzelnen Augenblick seines Seins die Fülle der Vollkommenheit zu eigen ist.« – »So hat es mir noch nie jemand dargestellt«, sagte er. Ich fragte ihn, ob er daran interessiert wäre, die Philosophie des Thomas von Aquin kennenzulernen. »Nein, das interessiert mich nicht, denn man wird in dieser Welt nicht durch die Wahrheit bekannt, sondern durch die Neuheit, und meine Lehre ist neu.«
Die Prüfungen für den Doktortitel an der Katholischen Universität Löwen fanden mündlich statt. Ungefähr zwanzig Studenten oder Kandidaten wurden gleichzeitig in einen großen Saal eingelassen, in dem zwanzig Professoren an zwanzig Tischen saßen. Als Student suchte man sich dann einen Tisch aus, der einem zusagte. Jeder strebte zum Tisch des Professors, von dem er dachte, seine Fragen wären die einfachsten. Der Professor stellte Fragen, bis man auf eine Frage nicht mehr antworten konnte. Dann schickte er den Betreffenden zu einem anderen Tisch. Die Prüfung dauerte den ganzen Tag. Am Ende des Tages gab jeder Professor seine eigene Benotung ab, und dann besprachen sich alle Professoren zusammen und gaben eine Abschlussnote.
Als ich zum Tisch von Dr. Noël kam, sagte er: »Sagen Sie mir, wie ein Engel einen Syllogismus vollzieht.« Ich antwortete: »Ein Engel muss den Schlussfolgerungsprozess nicht durchlaufen, da er über eine intuitive Intelligenz verfügt. Deshalb sieht er Schlussfolgerungen so klar wie wir die Tatsache, dass ein Teil nie größer ist als das Ganze. Ein Engel kann also keinen Syllogismus vollziehen.« Später, als wir uns sehr gut kannten, fragte ich ihn, ob er sich an diese Frage erinnere und warum er sie gestellt habe. Er antwortete: »Sie erinnern sich, als ich das Seminar über Bergsons Philosophie hielt, sagte ich zu den Studenten: ›Ich möchte, dass Sie jede einzelne Zeile lesen, die der hl. Thomas je über das Thema Engel verfasst hat, damit Sie die Intelligenz der Engel verstehen können.‹ Ich wollte einfach herausfinden, ob Sie dieser Aufforderung gefolgt sind.« Etwas später, als ich in Rom am Angelicum arbeitete, las ich jede Zeile, die der hl. Thomas geschrieben hatte, mindestens ein Mal.
Die Universität hatte noch einen höheren akademischen Grad zu vergeben, den eines Agrégé.13 Dies bedeutete, dass man zu einem Mitglied der Fakultät wurde. Man musste mehrere Bedingungen erfüllen, um diese Ehrung zu erhalten: Erstens musste die Universität die Einladung aussprechen, zweitens musste man ein Buch veröffentlicht haben und drittens musste man eine öffentliche Prüfung vor Professoren anderer Universitäten ablegen. Ich erhielt die Einladung, mich als außerordentlicher Professor zu bewerben. Da es nicht nötig war, sich in Löwen aufzuhalten, während man sich auf das Diplom vorbereitete, ging ich für ein Jahr zum Theologiestudium nach Rom und schrieb mich am Angelicum ein, das heute zutreffender als Päpstliche Universität Heiliger Thomas von Aquin bezeichnet wird, ebenfalls an der jesuitischen Päpstlichen Universität Gregoriana. Dann wurde ich eingeladen, am Theologischen Seminar Westminster in London einen Kurs in Theologie zu halten.
Der Zeitpunkt war gekommen, um die Prüfung zum außerordentlichen Professor vor den zu diesem Zweck eingeladenen Professoren der anderen Universitäten abzulegen. Die Prüfung begann um neun Uhr morgens und dauerte bis fünf Uhr am Nachmittag. Dann wurde aus den eingeladenen Professoren ein Gremium gewählt, das über die Benotung entscheiden sollte. Es war dieselbe wie für eine Promotion: genügend, gut, sehr gut und mit Auszeichnung. Am Abend gab die Universität für den erfolgreichen Kandidaten ein Abendessen und führte ihn in die Fakultät ein. Hatte man mit »genügend« bestanden, wurde zum Essen nur Wasser serviert. Für »gut« gab es Bier, für »sehr gut« Wein und für den Abschluss »mit Auszeichnung« Champagner. Der Champagner war an jenem Abend ausgezeichnet!
Ich erhielt zwei Lehrberufungen – die erste kam von Kardinal Bourne aus London, der mir vorschlug, nach Oxford zu kommen und mit dem Theologen und Priester Ronald Knox Seminare in katholischer Philosophie und Theologie abzuhalten, die zweite kam von Nicholas Murray Butler, damals Präsident der Columbia Universität von New York, der mich einlud, dort ein Seminar über scholastische Philosophie anzubieten.
Ich sandte die beiden Briefe an meinen Bischof: »Welches Angebot soll ich annehmen?« Seine Antwort: »Kommen Sie nach Hause.«
7 Verfluchung, Bann (Anm. d. V.).
8 Die Katholische Universität von Löwen ist eine der renommiertesten Universitäten in Louvain-la-Neuve, Belgien (Anm. d. V.).
9 Dreiecksberechnung (Anm. d. V.).
10 Getreidemaß in den USA, ca. 25 kg (Anm. d. V.).
11 Knapp 4 Liter (Anm. d. V.).
12 Innings sind Spielabschnitte, wobei in der ersten Hälfte die Auswärtsmannschaft Schlagmannschaft, in der zweiten Hälfte die Heimmannschaft Schlagmannschaft ist (Anm. d. V.).
13 Außerordentlicher Professor (Anm. d. V.).
3. Die Gabe des Schatzes
Während der ganzen Zeit meines Doktorandenstudiums war ich bereits Priester. Wie ist dieser Wunsch in mir aufgekommen? Wie hat er sich im Ton entwickelt und ist allmählich zur Blüte gekommen? Der Schatz kommt von Gott, der Ton gibt die Antwort. Unser Herr sagte zu seinen Aposteln beim letzten Abendmahl: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.« Und im Brief an die Hebräer heißt es: »Und keiner nimmt sich selbst diese Würde [des Priestertums], sondern er wird von Gott berufen.« Gott legt dieses heilige Pfand nicht in menschliche Wesen, die ihm gleich sind, und er tut es auch nicht auf dieselbe Weise. Er