LOVE YOUR NEIGHBOUR. David Togni

LOVE YOUR NEIGHBOUR - David Togni


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Kinder schon von uns? Davon, dass es an der Arbeit meines Vaters lag, dass wir oft umzogen, und es für uns ganz und gar nicht leicht war? Wir hinterließen jedes Mal Freunde, vertraute Wege, lieb gewordene Menschen, unsere eingerichteten Wohnungen und Kinderzimmer. Und jedes Mal blieb auch ein Teil unseres Herzens dort. Zu Unrecht so verurteilt zu werden, hinterließ tiefe Spuren in meiner Seele. Nie mehr wollte ich einem Menschen mit einem vorschnellen Urteil begegnen, bevor ich ihn und seine Geschichte nicht wirklich kannte. Der Satz von Mutter Teresa wurde mir zum Leitstern: „If you judge people, you have no time to love them.“ Das habe ich mir sogar auf meinem linken Unterarm tätowieren lassen. Das könnte man natürlich auch wieder verurteilen … Ja, wer Menschen verurteilt, hat keine Zeit, sie zu lieben. Er hält sich mit Äußerlichkeiten auf. Doch ich wollte lieben. Gerade Obdachlose und Bedürftige, denen man allzu schnell mit Vorurteilen begegnete.

      Ein anderes Schlüsselereignis mit Obdachlosen brannte sich mir auch schon früh ein: Jedes Jahr an Heiligabend backten meine Eltern mit uns drei Kindern – Anja, Mario und mir – Kekse. Die verpackten wir dann schön in glitzernde Weihnachtstüten und banden liebevoll eine Schleife drum herum. Bevor wir als Familie gemütlich und heimelig Weihnachten feierten und es die heiß ersehnte Bescherung gab, fuhren wir nach Luzern in die Stadt. Dann liefen wir in der eisigen Dezemberkälte durch die mit Lichterketten geschmückten Straßen, zu überdachten Haltestellen und in den fast ausgestorbenen, dumpf hallenden Bahnhof. Die Stadt war fast menschenleer, alle Geschäfte hatten bereits geschlossen und nur vereinzelt sah man noch Leute auf dem Weg zur Familienfeier.

      Aber wir suchten die Menschen, die auf der Straße bleiben würden, den ganzen 24. Dezember lang, auch den 25. und 26. Weil sie kein Zuhause hatten, keine Familie, mit der sie feiern konnten. Als Kind konnte ich mir das fast nicht vorstellen, der Gegensatz war so krass – umso mehr an Weihnachten. Wir gingen zu Obdachlosen, die in einem Schlafsack in der Kälte oder in einem etwas geschützten Winkel kauerten, und überreichten ihnen eine knisternde Tüte mit Keksen: „Fröhliche und gesegnete Weihnachten!“, wünschten wir ihnen mit strahlenden Kindergesichtern. Viele Obdachlose waren tief gerührt. Wir sagten ihnen, dass Jesus in die Welt gekommen sei, um Liebe und Frieden unter die Menschen zu bringen. Und wünschten ihnen alles Gute.

      Ein Obdachloser hatte es sich bei der bibbernden Kälte in einer Telefonzelle eingerichtet. Als meine Schwester Anja zaghaft die Zellentür öffnete und dem Mann eine Kekstüte mit den Worten „Frohe Weihnachten!“ überreichte, kam er wenige Augenblicke später aus der Kabine herausgerannt, stürmte hinter Anja her, umarmte sie fest und rief mit glasigen Augen: „Du bist ein Engel!“ Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an diesen weinenden Mann mit ungepflegtem Haar und verhärmtem Gesicht denke, wie er Anja ‒ und mit ihr ein Stück Himmel ‒ in die Arme schließt. Und bis heute schaue ich hin zu den Obdachlosen und Bedürftigen auf der Straße, schenke ihnen neue Socken oder Geld, bete für sie, gehe mit ihnen einkaufen oder essen. Dafür schlägt mein Herz.

      Was mich an der Vision von LOVE YOUR NEIGHBOUR so begeistert, ist, dass es dabei um so viel mehr geht als um einen Businessplan, der erfolgreich sein kann oder nicht. Um mehr als ein Modelabel, das einen Trend setzt und Menschen gut aussehen lässt. Es geht um einen Lifestyle, der andere im Blick hat, und um eine Bewegung, bei der LOVE YOUR NEIGHBOUR „draufsteht“, aber auch „drin ist“ – wo Nächstenliebe praktisch gelebt wird. Jesus fordert uns auf, dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst. Ich brenne dafür, dass immer mehr Menschen davon angesteckt werden, diese Liebe, wo auch immer sie unterwegs sind, zu leben. Dass sie an ihrer Arbeit gegenüber den Kollegen und Kunden wohlwollend und wertschätzend sind, in der Fußgängerzone oder Straßenbahn Menschen ein warmes Lächeln schenken oder Hilfe anbieten, in ihrer Familie dankbar und nachgiebig sind, an der Uni oder in der Schule ein offenes Ohr für andere haben, beim Trinkgeldgeben oder gegenüber Bedürftigen unerhört großzügig sind. Dass sie eben im Alltag nicht nur von sich selbst und den eigenen Projekten eingenommen sind oder den eigenen Sorgen nachhängen. Sondern dass diese liebende Aufmerksamkeit für andere ein Lifestyle wird, wie coole Fashion einer sein kann. Von dieser Kultur sollen viele erfasst werden, damit eine Lawine der Nächstenliebe ins Rollen kommt.

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      Bereits einige Wochen nach der Vision stapelten sich in unserem Hausflur die Pakete. Gespannt öffnete ich einen Karton nach dem anderen – es waren die Mustershirts. Hektisch vor Vorfreude zog ich sie heraus und drapierte sie alle nebeneinander auf dem Holzfußboden in meinem Zimmer bis in den Flur hinaus. Langsam schritt ich die Shirt-Meile auf und ab, befühlte die Textilien, verglich die Schnitte. Hm, das hatte ich mir anders vorgestellt. Keines der Shirts überzeugte mich so richtig, besonders die schnöden Formen enttäuschten mich alle. Trotzdem machte ich mit allen Textilien noch Waschproben und prüfte die Qualität. Aber ich musste ernüchtert feststellen, es war kaum etwas dabei, das mir gefiel und meinem Anspruch an Qualität entsprach.

      Kurz darauf reiste ich nach London zu einem City-Trip. Immer mal wieder mache ich Kurzreisen in Städte wie Amsterdam, London, Paris, New York, Berlin oder Madrid, um mich von der vibrierenden Stadt und der hippen Mode dort inspirieren zu lassen. Dabei ist es für mich längst selbstverständlich geworden, dass ich morgens mit Obdachlosen frühstücken gehe oder ihnen etwas Warmes zu trinken hole. Das ist einfach zu einem Lebensstil geworden – mit offenen Augen für Bedürftige durch die Städte zu gehen und mich in meinem Programm unterbrechen zu lassen.

      Auf diesem Trip in London, als ich durch die Shopping-Straßen lief, machte ich einen genialen Fund: In einem der Stores entdeckte ich die perfekten Shirts für LOVE YOUR NEIGHBOUR! Die, die es bei all meinen Mustersendungen nicht gegeben hatte: super Schnitte, toller Stoff und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Also packte ich die Gelegenheit beim Schopf, kaufte spontan zwei megagroße Koffer, dann 400 dieser T-Shirts und nahm sie mit in die Schweiz. Dort machte ich mich auf die Suche nach einer Druckerei und fand schließlich eine in Zürich, die Menschen mit Behinderung beschäftigte. Hier ließ ich die erste Kollektion – und einige weitere – drucken.

      Inzwischen war ich von Feuerthalen bei Schaffhausen in das Weindörfchen Jenins im Bündnerland umgezogen. Meine Freundin Elena, mit der ich zu dem Zeitpunkt seit eineinhalb Jahren zusammen war, hatte sich für ein Tourismusstudium in Chur entschieden. Da wir keine Wochenendbeziehung wollten, hatten wir beschlossen, dass ich mitkomme. Schließlich konnte ich genauso gut in der abgeschiedenen ländlichen Stille LOVE YOUR NEIGHBOUR weiterentwickeln und die viele Natur und die Berge würden mir guttun. So mietete ich eine schöne Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses, Elena dagegen wohnte im 20 Minuten entfernten Chur.

      Eine unwiderstehliche Sehnsucht aus meiner Kindheit hatte mich aufs Land gezogen. Als ich realisierte, dass das Fenster meines Zimmers zur Kuhweide hin lag, jubelte ich innerlich. Das vertraute Muhen und die dumpf klingenden Kuhglocken zu hören, machte mich glücklich und erinnerte mich an herrliche Zeiten von früher. Wenn ich auf der anderen Seite der Wohnung auf die große Terrasse hinaustrat, erstreckten sich direkt vor mir die ausgedehnten Weinberge der „Bündner Herrschaft“ – des größten Weinbaugebiets im Bündnerland – umgeben von hohen, kantigen Bergen. Ein atemberaubender Anblick!

      Da Elena von ihrem ersten Semester stark in Anspruch genommen wurde, hatte ich sehr viel Zeit für mich, weg von allem Betrieb und der extrem aufreibenden Zeit der vergangenen Jahre. Stundenlang spazierte ich allein durch die weitläufigen Weinberge oder am glitzernden Seeufer entlang und redete mit Gott. Manchmal stieg ich auf einen einsamen Berg und blickte in die Weite, ließ meine Gedanken schweifen und dachte über LOVE YOUR NEIGHBOUR nach und was alles möglich war. Zusammen mit Gott träumte ich den Traum weiter.

      Wenige Wochen nachdem ich ins Bündnerland umgezogen war, kam der große Moment. Gespannt wie ein Flitzebogen setzte ich mich an einem sonnigen Septembermorgen ins Auto und fuhr nach Zürich zur Textildruckerei. Stolz und überglücklich nahm ich höchstpersönlich die fertigen Shirts in Empfang – meine erste Kollektion! Sofort öffnete ich einen Koffer und holte ein Exemplar heraus. Wow! Megagenial! Der weiße Anker auf dem schwarzen Stoff sah einfach tipptopp aus. Dann wühlte ich durch den anderen Koffer, in dem die weißen Shirts waren. Auch davon war ich einfach nur begeistert. Strahlend schob ich die Gepäckstücke ins Auto, setzte mich ans Steuer und fuhr wie im Traum zurück


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