LOVE YOUR NEIGHBOUR. David Togni

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      HEILIGE ORTE

      An meine Kindheit und die Zeit, die ich mit meiner Familie verbrachte, erinnere ich mich gerne. Da wir so oft umzogen, waren wir Geschwister gleichzeitig enge Spielkameraden und Freunde. Es tat gut, immer auf sie zählen zu können, gerade wenn wieder ein Schulwechsel anstand. Mein Bruder Mario und ich blickten voller Bewunderung zu unserer Schwester Anja auf. Klar, sie war die Älteste, die Große, unser Vorbild.

      Mit Mario, der nur ein Jahr älter ist als ich, war Streiche spielen und durchgeknallte Wetten abschließen ganz groß. Einmal bekamen wir jeder ein kleines Bananenpflänzchen geschenkt. Dann galt der Contest: an welcher zuerst eine Banane hängt! Natürlich war es völlig utopisch, dass in der Schweiz eine Bananenstaude wächst und dazu noch eine Frucht trägt, aber die Wette stand. Täglich ging ich zu meinem Pflänzchen, goss es gewissenhaft und wartete ungeduldig darauf, dass sich etwas regte. Nur leider passierte nicht viel. Also beschloss ich, meinem Gewinnerglück ein wenig auf die Sprünge zu helfen: Am Abend stellte ich meinen Wecker auf ein Uhr und legte ihn unter mein Kissen, damit er die anderen nicht weckte. Als es an meinem Ohr rasselte, stand ich mitten in der Nacht leise auf und schlich mich in die Küche. Dann öffnete ich die quietschende Kühlschranktür, angelte die Milchflasche heraus und tastete mich im Dunkeln zu Marios Staude. In der Hoffnung, sie würde dadurch ganz schnell eingehen, goss ich den gesamten Inhalt der Flasche in den Blumentopf. Plötzlich hörte ich hinter mir tapsende Schritte. Als ich mich umdrehte, stand Mario vor mir – mit einer Flasche Sirup! –, munter unterwegs zu meiner Banane … Nach einigen verdutzten Sekunden brachen wir in schallendes Gelächter aus, hielten uns aber schnell die Hände vor die Münder, um die anderen nicht aus dem Schlaf zu reißen. Da hatten wir am nächsten Morgen am Frühstückstisch echt eine Story zu erzählen! Auf jeden Fall war meine Banane dann schneller als Marios – schneller kaputt. Das nächste Mal musste ich also unbedingt Sirup nehmen … Mario hatte für diesmal gewonnen. Glückwunsch!

      Meine Eltern, Sabine und Lorenzo, haben uns wirklich eine herrliche Kindheit ermöglicht. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, wie viel die vorigen Generationen gekämpft, gegeben und eingesetzt haben, damit wir heute so leben können, und welches reiche Erbe sie uns mitgegeben haben. Mir ist sehr bewusst, dass ich zu einem großen Teil der bin, der ich bin, weil sie mich mit ihrer Erziehung und ihren Werten geprägt und Opfer gebracht haben.

      Mama und Papa stammen beide aus Familien, die echte Lebenskünstler und Kämpfer sind. Als „Ausländerfamilien“ (die Familie meiner Mutter stammt aus Deutschland, die meines Vaters aus Italien) trafen sie in der konservativen Schweiz der 60er- und 70er-Jahre auf viele Vorurteile. Mamas Familie zog ins Wallis, als sie sechs war, pünktlich zur Einschulung also. Doch die erste Schulwoche wurde zu einem ziemlichen Desaster. Hoch konzentriert saß Mama als kleines Schulmädchen auf ihrer Bank und bemühte sich, der Lehrerin zu folgen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie verstand kein Wort! Irgendwann brach sie verzweifelt in Tränen aus. Nach einer Woche nahm man sie wieder aus der Schule, damit sie im Kindergarten noch ein Jahr Schwyzerdütsch lernen konnte.

      Papas Familie hatte sich ebenfalls im Wallis niedergelassen, wo sein Vater quasi aus dem Nichts eine Zinngießerei aufbaute, mit der er extrem schnell sehr erfolgreich wurde. Meine Eltern lernten sich dann im Oberwallis in Brig kennen, als sie gemeinsam die kaufmännische Berufsschule besuchten. Damals war Papa als „der Italiener“ dorfbekannt – mit seinen glänzenden schwarzen Locken, dem adretten Schnauzer, seinen Goldkettchen und dem extravaganten Kleidungsstil. Als er Mama einmal zum Ausgehen abholte, traf sie fast der Schlag: Lorenzo war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet – weißes Hemd, weiße Jacke, weiße Hose, weißer Gürtel und sogar weiße Schuhe – und führte sie in seinem weißen Mercedes aus. Ganz der italienische Macho eben …

      An Geld fehlte es Papa wirklich nicht. Schon vor seiner Ausbildung hatte er mit seinem Vater gearbeitet und gelernt, Geschäfte zu machen, wobei er ein glückliches Händchen bewies. Gerne leistete er sich schöne Dinge und stellte, was er besaß, auch zur Schau. Voller Stolz fuhr er seinen Mercedes, in dem sich die Dorfsensation befand: eines der ersten Mobiltelefone der Schweiz, ein NATELport! Es war ein monströses Gerät, eingebaut in einen schwarzen Koffer, das aussah wie ein klassisches Telefon aus den 70er-Jahren, mit Wählknöpfen und verkabeltem Hörer. Nur dass es zusätzlich über einen eigenen Sender und Empfänger verfügte und mit Batterien betrieben wurde. Gerade die Batterien waren riesig und nahmen im Koffer, der fast 25 Kilo wog, den meisten Platz ein. War das Natel im Auto dabei, hatte es seinen angestammten Platz zwischen Fahrerund Beifahrersitz.

      Einmal, als Mama mit Papa im Auto mitfuhr, schaltete die Ampel in der Dorfmitte von Brig eben auf Rot. Mit seiner schicken, weißen Karosse hielt Papa ganz vorn an der Ampel, direkt vor dem Fußgängerüberweg. Die Aufmerksamkeit der Passanten war ihm damit sicher. Papa nutzte die Gelegenheit, nahm demonstrativ das Natel in die Hand und telefonierte. Mama wurde puterrot und rutschte voller Scham vom Beifahrersitz in den Fußraum, wo sie ausharrte, bis die Ampel auf Grün umschaltete und Papa endlich wieder anfuhr.

      Er liebte es, immer die neusten Dinge zu haben und damit aufzufallen. Zu dieser Zeit, Papa war Anfang 20, hatte er zwei klare Ziele ins Auge gefasst: Sabine zu heiraten und mit 30 mehrfacher Millionär zu sein. Beides sollte wahr werden. Nach dem Motto: „Schlafen ist für Faule“ lebte er ein erfolgreiches, enorm ehrgeiziges Leben als Unternehmer. Zusammen mit seinem Vater baute er unter anderem ein Immobiliengeschäft in Spanien auf und war oft wochenlang weg von der Familie, die mittlerweile aus Mama und uns drei Kindern bestand.

      Eines Tages kam die Kehrtwende. Als Papa von einer Geschäftsreise zurückkam, traute Mama ihren Augen kaum: Wo Papa ging und stand, hatte er neuerdings eine Bibel unterm Arm und las darin, wann immer er konnte. Zwar wusste Mama, dass er spirituell auf der Suche war, aber eine Bibel, die er jetzt sogar noch unter sein Kopfkissen legte? Mama war überzeugt, Papa musste ein Stein auf den Kopf gefallen sein. Sie kannte doch ihren Mann! Doch Lorenzo hatte sich tatsächlich um 180 Grad gedreht. Hatte er vorher keinen Kunden ohne einen abgeschlossenen Deal aus einem Gespräch entlassen, so stand das Geschäft für ihn plötzlich nicht mehr an erster Stelle. Brennend für Jesus und seinen neu gefundenen Glauben, ließ er jetzt niemanden mehr gehen, bevor der nicht Jesus kennengelernt hatte. Die Geschäfte liefen dadurch immer schlechter, aber das war ihm egal. Von heute auf morgen setzte mein Vater andere Prioritäten im Leben, er wollte mehr für andere da sein. Vorher war Papa ständig auf Achse gewesen und Mama mit uns Kindern viel allein, doch jetzt verbrachte Papa ganz bewusst immer häufiger Zeit mit der Familie.

      Drei Monate nach Papa fand auch Mama zu einer persönlichen Beziehung zu Jesus. Ihren gemeinsamen Glauben und die Liebe, die sie bei Gott erfahren hatten, lebten sie uns ganz praktisch vor. Dazu gehörte, Bedürftige und Obdachlose nicht zu vergessen und dabei großzügig zu sein, wie wir das an Weihnachten immer erlebten. Auch was es bedeutet, Gott wichtiger zu nehmen als alles andere, haben meine Eltern uns immer wieder eindrücklich vermittelt. Eines Tages spürte Papa, dass Gott ihn durch eine sanfte, aber klare innere Stimme dazu aufforderte, das ganze Gold, das er trug, abzulegen und wegzuwerfen. Das traf mitten ins Schwarze. Traurig stellte Papa fest, wie schwer es ihm fiel, sich von seinem Besitz zu trennen. Erst schwankte er, aber schließlich fasste er den Entschluss: Ich möchte allein von Gott abhängig sein. Also nahm er die Halskette ab, den goldenen Siegelring und das Armkettchen und versenkte sie alle zusammen im Thunersee.

      In dem Moment spürte er eine riesige Erleichterung. Hatte etwa sein Besitz ihn besessen? Immer wieder erzählte uns Papa von diesem Wendepunkt in seinem Leben und Glauben, als es darum ging, Gott mehr zu vertrauen als allem anderen. Dabei ist Besitz an sich nicht schlecht, das ist nicht der Punkt. Wenn der Stellenwert von einem eigenen Haus, schönen Kleidern oder großen Autos im Leben stimmt, können wir Gott damit ehren und andere werden davon profitieren – dann können sie das Auto mal leihen oder mitfahren. Bei Papa ging es in dem Moment aber darum, sich zu entscheiden, was bei ihm an erster Stelle stand und worauf er seine Identität gründete.

      Papa ist ein waschechter Unternehmer und Verkäufer – das hat er von seinem Vater. Auch Mama hat das Kaufmännische im Blut und das haben sie definitiv an uns weitergegeben. Sowohl Anja als auch ich begannen


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