LOVE YOUR NEIGHBOUR. David Togni
– in La Mata an der wunderschönen Südostküste Spaniens, nicht weit von Alicante. Irgendwann wurde es von meinem Vater geführt, so wie er auch viele der anderen Immobiliengeschäfte vor Ort leitete. Wir als Familie verbrachten insgesamt drei herrliche Jahre in La Mata.
Das Hotel von Nonno war unglaublich – seine künstlerische Ader schlug sich überall nieder. Als gelernter Schreiner hatte er viele der außergewöhnlichen Möbel und Kunstwerke in der Anlage selbst geschnitzt. Kam man von außen in den Eingangsbereich hinein, lief man direkt auf einen plätschernden Brunnen mit Fischen, Schildkröten und Palmen zu. Rechts befand sich die Rezeption, die Mama leitete, als wir dort wohnten, und direkt daneben der Eingang zu einem extravaganten Schwimmbad. Nonno hatte die Wände und Decken wie eine Höhle aus Holz geschnitzt und sie dann mit wasserfestem Material verkleidet. Da hingen Tropfsteine von der Decke und man fühlte sich beim Schwimmen wie ein Höhlenforscher in der Südsee. Nonno hatte sich hier wirklich ausgelebt.
Umso erstaunlicher ist das, wenn man um Nonnos Geschichte weiß. Er hat die mit Abstand härteste Story, die ich kenne, genug Stoff, um ein eigenes Buch zu füllen! Im Bergdörfchen Crodo in Norditalien wuchs er in einem kleinen Steinhaus auf. Sein Vater war Tunnelbauer und starb sehr früh an einer Staublunge, die ihm seine Arbeit beschert hatte. Nach seinem Tod, da war Nonno neun, sagte seine Mutter zu ihm: „Ab heute bist du nicht mehr mein Sohn!“, und steckte ihn ins Internat, um mit ihrem Freund zusammenleben zu können. Wenn am Wochenende die Eltern der anderen Kinder kamen, sah Nonno traurig und voller Neid zu, wie sie ihnen Süßigkeiten oder saftige Orangen mitbrachten. Ihn besuchte nie jemand, das machte ihn wütend. Sobald die Eltern wieder weg waren, ging er auf die anderen Kinder los, bis sie ihm ihre Geschenke gaben. Wer Glück hatte, musste nur mit ihm handeln und kam dadurch glimpflich davon. So lernte Nonno früh zwei Dinge: „Der Stärkere gewinnt“ und: „Nimm dein Leben selbst in die Hand, wenn du etwas bekommen willst.“
Nachdem er im Internat eine Schreinerlehre abgeschlossen hatte, begann für ihn ein unruhiges und gefährliches Leben. Mit seinen 16 Jahren war er nun auf sich gestellt und schlug sich durch, teilweise mit Schreinerarbeiten, aber auch mit krummen Geschäften und als gefürchteter Straßenkämpfer. Schließlich arbeitete er als Grenzgänger in verschiedenen Jobs in der Schweiz. Mit seinen zwei rechten Händen wurde alles, was Nonno anfasste, zu Gold. In der Schreinerei, wo er arbeitete, überflügelte er mit seinem irren Tempo und Geschick alle.
Nonno war auch legendär stark: Wenn es auf dem Bau galt, zentnerschwere Zementsäcke zu tragen, warf er sich einen in den Nacken, hievte einen auf jede Schulter und zwei unter die Arme. Wer ihn kannte, wagte es nicht, sich mit ihm anzulegen. Er hatte gelernt, der Stärkere zu sein. Sogar zwei Narben von Kugelschüssen in seinem Bein hat er mir gezeigt, die von brenzligen Situationen in seinem Leben zeugen …
Schließlich siedelte Nonno ganz in die Schweiz um, ins Wallis nach Brig, und gründete dort mit einer jungen Italienerin eine Familie. Auch sie, meine Nonna, war eine Kämpferin; sie war mit acht Jahren Vollwaise geworden und hatte ihre beiden Geschwister allein aufgezogen. Nicht viel später bekamen meine Großeltern Togni Kinder – Lorenzo, meinen Papa, und Paolo, meinen Onkel. Nonno lebte sich dann aus: in verschiedenen Unternehmen, die er erfolgreich aufbaute, dem Ferrari, den er sich mit seiner ersten Million kaufte, mit seinem Hotel in Spanien, aber auch als Lebemann. Bitter war es für meine Großmutter und die Ehe, die schließlich auseinanderbrach. Heute lebt Nonno in Nordspanien; meine Nonna hingegen ist nach Norditalien zurückgezogen.
Immer wenn ich Nonna heute dort besuche, in ihrer kleinen, blitzblanken Wohnung mit weißem Marmorboden, dampft eine Lasagne im Ofen oder wartet ein Tiramisu auf mich. Sie ist unglaublich stolz auf ihre Enkel, gleichzeitig lässt sie keine Gelegenheit aus, sich über mein Aussehen zu beschweren – meine langen Haare, den Vollbart, meine Tattoos und zerschlissenen Jeans. Das alles mag Nonna nicht. Trotzdem zieht sie freudig mit mir durch das winzige italienische Örtchen und stellt mich sämtlichen Leuten vor. Dass sie das schon hundert Mal gemacht hat, wissen meistens nur der Vorgestellte und ich – und wir grinsen uns jedes Mal wissend an.
Nonno und Nonna verdanke ich einen heiligen Ort meiner Kindheit – La Mata. Ein wahres Paradies. Besonders deutlich erinnere ich mich an die Zeit, als wir während der Primarschule dort in Spanien waren, da war ich neun. Wir lebten in einem Apartment im Hotel, ganz nah am Meer. Unsere Wohnung in einem der oberen Stockwerke hatte eine herrliche Dachterrasse. In einem Häuserblock unmittelbar vor dem Aparthotel war eine Dachwohnung als Klassenzimmer für uns Kinder eingerichtet worden. Wir hatten unglaubliches Glück: Eine junge, sehr engagierte Lehrerin aus der Schweiz, Cécile, nahm sich ein Jahr Auszeit von der Schule und kam als Privatlehrerin für uns mit.
Wir schlossen einander gleich ins Herz und liebten es, zu Cécile in den Unterricht zu gehen. Sie musste ja den Stoff für uns alle drei parallel unterbringen, da wir in unterschiedlichen Klassenstufen waren. Oft nahmen wir Themen zusammen durch und natürlich musste Anja, die Älteste, am meisten lernen. In den Pausen flitzten wir schnell in unsere Wohnung und zogen unsere Badehosen an. Cécile wartete schon vor dem Hotel auf uns, auf dem Kopf einen großen Strohhut, unter dem ihre fröhlichen Augen hervorblitzten. Zusammen liefen wir an den Strand und lachten ausgelassen, als wir im heißen Sand, der unsere nackten Füße verbrannte, von einem Bein aufs andere hüpften. Schnell rannten wir aufs Wasser zu und stürzten uns schreiend vor Freude in die herrlichen Fluten der Costa Blanca.
Im Grunde war für uns Kinder die Zeit mit Cécile nie Schule. Immer machte es Spaß und war spannend – was ich von meiner sonstigen Schulerfahrung ganz und gar nicht behaupten kann. Wir alle freuten uns immer auf Céciles fröhlichen Unterricht und kamen auch nie zu spät. Na ja, fast nie – außer ich, mittwochs …
Mittwochs war Straßenmarkt in La Mata. Mein Tag! Ganz früh schlich ich los zum Kanal del Acequión, wo viele bunte Stände die Straße säumten: stapelweise billige Handtaschen, duftende Blumen, kitschige Souvenirs aus Plastik oder Keramik, Kleider und bunte Strandausrüstung, streng riechende Lederwaren und zahlreiche Lebensmittelstände. Schon am Morgen herrschte hier reger Betrieb. Der Markt war ein Magnet für Touristen aus den umliegenden Urlaubsorten. In Scharen schlenderten sie hier durch die Gassen und versorgten sich mit Lebensnotwendigem, bevor am Mittag die unerträgliche Hitze ausbrach. Ich aber hatte nur ein Ziel: den Obststand mit den herrlich bunt arrangierten Bergen von Zitronen, Trauben, Äpfeln, Kirschen, Orangen und riesigen Wassermelonen, unter denen die Bretter ächzten. Schnell kramte ich eine 25-Peseten-Münze aus der Tasche – dieses schöne Geldstück mit goldenem Rand und einem Loch in der Mitte – und setzte als blonder Neunjähriger meinen wirkungsvollsten Hundeblick auf. Dabei hielt ich dem Verkäufer die Münze hin, zeigte mit der anderen Hand unschuldig auf die Melonen und sagte in meinem kindlichen Spanisch: „Ich habe nur das!“
Meine Strategie ging voll auf! Mit erweichtem Herzen gab mir der Verkäufer dann eine Melone – natürlich für einen Bruchteil des marktüblichen Preises. Siegessicher und stolz schleppte ich meine Beute zurück – ich konnte sie kaum tragen! Vor dem Hotel blieb ich kurz stehen, schaute, ob die Luft rein war – kein Papa, kein Nonno, keine Mama – und huschte in die Küche zu meinem Freund Vincent. Vincent war der Hotelkoch, ein großväterlicher Typ mit weißen Haaren und gütigen Augen. Er grinste vielsagend, als er mich sah, und hob vergnügt die Augenbrauen. Auf meine Bitte hin schnitt er die Melone in Stücke, packte sie fein säuberlich in Folie ein und ließ mich verschwörerisch hinten durch den Bedienstetenausgang verschwinden. Dort setzte ich mich dann an die Straße vor den schattigen Kellereingang und verkaufte den gerührten Spanierinnen Melonen – natürlich wieder mit Hundeblick und zu einem Preis pro Stück, der bei Weitem höher war als eine ganze Melone. Danach flitzte ich nach oben in den Klassenraum und tat so, als sei nichts gewesen. So verdiente ich mir mein Taschengeld in Spanien. Tja, früh übt sich, wer ein Kaufmann werden will!
Eine andere Möglichkeit, an Taschengeld zu kommen, bot sich uns in den Ferien, wenn wir im Hotel helfen durften. Einmal mussten Mario und ich wochenlang die Dachterrasse schrubben, die riesig war und mit der wir einfach nicht fertig wurden! Überall Sand und immer wieder neuer Sand. Aber der mit Abstand genialste Job im Hotel war Brunnenputzen. Der plätschernde Blickfang im Hoteleingang musste natürlich ordentlich aussehen. Also traten