Die Saga von Witte Wittenson. Skalbard Odinson
solche Wohltätigkeit völlig fremd war, wähnten aber andere Beweggründe hinter Wittes tun, und so antworteten sie:
„Das könnte dir so passen, Schwager. Jetzt nimmst du uns die Arbeiter und im Frühjahr baust du mit ihrer Hilfe deine Mauer, während wir noch auf der Suche nach neuen Kräften sind. Niemals. Lieber lassen wir sie sterben!“
Da wurde Witte zornig und er sagte:
„Bei Odin, verbrecherisch und ehrlos ist euer Tun! Nie hegte ich den Wunsch, König zu werden, doch wäre es eine Schande für Harlofs Reich einen von Euch auf dem Hochstuhl sitzen zu sehen. Vielleicht sollte ich wirklich noch mit meiner Mauer beginnen.
Doch heute bin ich hier, um zu verhindern, dass euretwegen viele gute Menschen sterben. So mache ich euch folgendes Angebot: Ihr überlasst mir in diesem Winter jeden eurer Leute mit Leib und Werk, der in meiner Halle Zuflucht sucht, doch im Frühling sollen sie zu euch zurückkehren und erneut euer Eigen sein.“
Dem willigten die beiden nur allzu gerne ein, denn so mussten sie sich nach dem Winter keine neuen Sklaven suchen. Und sie lachten über ihren Schwager und sein mildes Herz.
Witte aber lies verkünden, dass er jedem, der zu ihm kommen wolle, in seiner Halle Kost und Lager gab. Beinahe alle von Akis und Gnupis Männern folgten diesem Angebot.
Dann sagte er zu ihnen: „Diesen Winter sollt ihr in meiner Halle ein warmes zuhause und ausreichend Nahrung finden, doch wenn der Schnee schmilzt, müsst ihr zurück zu euren Herren.“
Da ging ein großes Seufzen durch Wittes Halle.
„Sie werden uns wieder zum Mauerbau zwingen und wir können weder säen noch ernten“, rief einer.
„Warum wirst du nicht König, Witte Wittesson?“, rief ein anderer. „Denn du bist klüger und gerechter, als beide deine Schwäger zusammen!“
Dem stimmten alle anderen mit lautem Jubel zu.
Auch Wittes Frau, die neben ihm stand und ihm nun zuflüsterte: „Sieh nur diese Menge. Wenn nicht Winter wäre, könntest du mit ihnen im Handumdrehen eine eigene Mauer bauen und tatsächlich König werden. Doch leider kann man auf Schnee keine Steine setzten, denn auf Schnee hält nichts außer Schnee selbst.“
Da lachte Witte aus ganzem Herzen und umarmte und küsste seine verwunderte Frau. Dann wandte er sich wieder an die Menschen in seiner Halle und sprach: „Weise sind die Ratschläge der Frauen, auch wenn sie es selbst nicht ahnen. Mit Leib und Werk machten euch eure Herren mir für diesen Winter zu Eigen, und wenn ihr erlaubt, werde ich es nutzten, um König zu werden.“
Es gab niemanden, der es ihm verweigern wollte.
Dreißig Tage später rief Harlof seine drei Schwiegersöhne zu sich und verkündete öffentlich und voller Stolz, dass Witte Witteson sein Nachfolger sein würde.
„Verrat!“, schrien da Aki und Gnupi. „Du selbst sagtest, dass derjenige König werden soll, dem es zuerst gelingt, eine Mauer um Glänoy zu ziehen!“
Doch der König lächelte mild und nickte bestätigend: „Und genau das habe ich getan.“
„Das ist unmöglich!“, wandte Aki ein. „Niemand baut so schnell eine Mauer!“
„Schon gar nicht im Winter!“, fügte Gnupi hinzu.
„Wenn ihr selbst dem König nicht glaubt“, fiel Witte ihnen ins Wort, „so geht raus und schaut selbst!“
Sofort eilten die beiden hinaus vor die Stadt und erkannten mit ungläubigem Blick eine zwei Mann hohe, weiße, aus Schnee gebaute Mauer, die sich rings um die Stadt zog.
„Das ist keine Mauer!“, riefen sie erbost. „Das ist bloß Schnee. Im Frühling wird nichts mehr davon zu sehen sein!“
Wieder lächelte der alte König und sagte: „Ich gab weder vor, dass die Mauer aus Stein sein soll, noch das sie länger als auch nur einen Tag halten soll. Witte hat die Aufgabe meinen Ansprüchen genügend erfüllt. Ihm soll mein Reich nach meinem Tode gehören.“
Schon im nachfolgendem Frühling verstarb der König und Witte, den jetzt jedermann nur noch „Schnee-Witte“ nannte, trat sein Erbe an.
Aki und Gnupi verließen gedemütigt die Stadt und nur wenige aus ihrem Gefolge zogen mit ihnen.
Ihre beiden Mauerhälften aber lies Witte mit ein paar Steinen verbinden, und so hatte Glänoy auch in den warmen Jahreszeiten eine durchgängige Stadtmauer.
4.
DAS THORJAN’SCHE PFERD
Einar Ormsson, ein dänischer Jarl in Jütland, war niemals ein Mann schneller Entschlüsse. Bei den Zusammenkünften auf dem Thing war er immer der letzte der Jarle, der seine Meinung zu einem Streitfall äußerte. Auch in seiner Halle gab er erst einen Urteilsspruch ab, nachdem er sich gründlich damit beschäftigt hatte. Es wird sogar berichtet, dass er einst einer Hochzeit eines seiner Vasallen erst die Zustimmung gab, als dessen Braut bereits auf dem Kindbette gestorben war.
Einmal wäre beinahe sein gesamtes Gefolge verhungert, weil er sich nicht entscheiden konnte, welches Getreide er im Frühling aussäen lassen sollte.
Sogar sein erstgeborener Sohn soll erst einen Namen erhalten haben, als er bereits laufen konnte. Er nannte ihn schließlich Orm, nach seinem Vater.
Wenn man all diese Geschichten hört, verwundert es auch nicht, dass er sich erst dazu entschließen konnte, seine Schiffe auf Raubzug an ferne Ufer zu schicken, als seine Nachbarn bereits mit reicher Beute und strahlendem Ruhm heimgekehrt waren.
„Orm, mein Junge“, sagte er zu seinem Sohn, als der Herbst bereits die Blätter gelb färbte, „nimm ein paar meiner Schiffe, stelle eine gute Mannschaft zusammen und bring mir Schätze aus fernen Ländern, die unsere Nachbarn vor Neid erblassen lassen.“
Orm, der das genaue Gegenteil zu seinem Vater war, nämlich überaus schnell entschlossen und hitzköpfig, musste dazu nicht lange überredet werden. Schon am Abend desselben Tages hatte er eine schlagkräftige Mannschaft zusammengestellt, mit der er am Morgen des übernächsten Tages in See stach.
Ein Ziel war schnell ausgemacht. Nachdem in den letzten Sommern immer wieder die britannischen Inseln den Wikingern zum Opfer fielen, war allen klar, dass dort nicht mehr viel zu holen war. Dagegen berichteten viele Raubfahrer, dass sie diesen Sommer im Land der Franken und weiter südlich gute Beute gemacht hatten. Besonders den Fluss hinauf, den die Einheimischen Seine nannten, waren allen Anschein nach wahre Schätze zu holen.
Der Wind stand gut und so segelten sie wortwörtlich in Windeseile an den Küsten Sachsens, Frieslands und Asturiens entlang und erreichten ungehindert die Mündung der Seine. Von da an nahmen sie die Ruder zu Hilfe und kämpften sich gegen die Strömung den Fluss hinauf.
Schon bald kam der erste Kirchturm am Horizont in Sicht und die Vorfreude der Männer auf Kampf und Beute führte dazu, dass sie zum Takt der Ruderschläge ihre gefürchteten Kriegsgesänge anstimmten.
Noch bevor die Anwohner des Dorfes die Segel und Drachenköpfe der Langschiffe den Fluss hinaufkommen sahen, hörten sie die rauen Stimmen der Männer und hegten keinen Zweifel daran, wer sie heimzusuchen gedachte.
In wilder Panik flohen sie in die Wälder und ließen all ihr Hab und Gut und oft sogar ihre Kinder und Alten ungeschützt in den Häusern und Höfen zurück.
Zuerst waren Orm und seine Gefährten erzürnt über so viel Feigheit, doch dann beschloss man, das Gute an der Sache zu sehen und in aller Ruhe die Siedlungen zu plündern.
Es dauerte nicht lange, bis sie bemerkten, dass es nicht viel zu holen gab.
Ein paar Hühner, einige rostige Waffen und einen Haufen schmutziger Kleider waren alles, was sie finden konnten. Nicht einmal ein paar minderwertige Münzen ließen sich finden, geschweige denn Gold, Edelsteine oder zumindest kostbare Tücher oder Gewürze.
Thorjan der Weitgereiste, der seinen alten Freund Orm