Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer. Erik Lorenz
überzeugt sie den Beamten von ihrer Harmlosigkeit, aber sein Vorgesetzter vertraut seinem Urteil nicht und will Welskopf-Henrich nun seinerseits auf den Zahn fühlen. Es ist jener uniformierte Mann, dem sie zuvor auf dem Flur begegnet ist. Er ist groß, übergewichtig und feindselig, und er will seinem Untergebenen vorführen, wie ein echtes Verhör auszusehen habe. Doch auch er hat keine besseren Informationen als jener, und Welskopf-Henrich kann sich behaupten. In ihrem ersten Verhörenden, der nun von seinem Vorgesetzten bloßgestellt werden soll, findet sie sogar einen unerwarteten Verbündeten. Er steht schräg hinter seinem Chef, vor dem er mit seinem Urteil bestehen will, und gibt ihr mit den Augen Signale, ob sie etwas zugeben oder bestreiten solle. Später gibt sich der kleine Beamte regelrecht zuvorkommend. Welskopf-Henrich muss noch einmal warten und schickt sich an, wieder auf der lehnenlosen Bank im Korridor Platz zu nehmen, doch der Beamte verhindert es: Sie müsse doch jetzt nicht mehr neben Juden sitzen…
Als sie, das Gebäude verlassend, am Pförtner vorübergeht, ist dieser überrascht: »Sie gehen wieder?! Da haben Sie aber Glück gehabt. Sie sind die erste, die wieder gehen darf.«
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Dieses Ereignis, von dem Welskopf-Henrich im autobiographischen Roman »Jan und Jutta« (vgl. S. 553–559) berichtet, steht beispielhaft für viele andere Situationen im Zweiten Weltkrieg, in denen sie in unmittelbarer Gefahr beherzt gehandelt und so Schlimmeres für sich und ihre Mitmenschen abgewendet hat. Das Werk, das sie in enger Zusammenarbeit mit ihrem Mann verfasste, erzählt die Geschichte von Rudolf Welskopfs (im Buch Jan genannt) Kindheit und Jugend bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Parallel dazu wird Welskopf-Henrichs (Juttas) eigenes Leben als Mitglied einer bürgerlichen Berliner Familie dargestellt.
Als eingeschworener Gegner der NSDAP nach jahrelangem Gefängnis- und Zuchthausaufenthalt 1940 ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, wo er alle Grausamkeiten des KZ-Alltags durchleben musste, wird Rudolf Welskopf 1943 als Handwerker ins KZ-Außenlager Lichterfelde verlegt. Eine seiner Aufgaben ist die Herrichtung der ehemaligen Wohnung einer jüdischen Familie, die nun ein hochrangiger Nationalsozialist bewohnen soll. Gegenüber dieser Wohnung lebt Liselotte Welskopf-Henrich (damals nur Henrich), die jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit die halbverhungerten Häftlinge und deren Aufseher bei ihrem Tun beobachten kann. Lange sinnt sie, die schon seit 1938 verfolgte Juden unterstützt, über eine Möglichkeit nach, den geschundenen Gefangenen ein Zeichen der Solidarität zu geben. Indem sie sich mit Hilfe einer Schachtel Zigaretten mit dem Wachhabenden gutstellt, gelingt es ihr, den Häftlingen Nahrungsmittel zuzustecken. Um die Häftlinge weiterhin mit Vorräten versorgen zu können, organisiert sie sich von Freunden und Bekannten Lebensmittelmarken.
Mit dem ihr bis dahin unbekannten Rudolf Welskopf beginnt sie einen geheimen Briefwechsel, dessen Inhalt zunehmend politische Diskussionen über den Kommunismus sind. Rudolf verfasst diese Briefe gemeinsam mit einigen Mitgefangenen; einer von ihnen ist der spätere bekannte DDR-Maler Hans Grundig (1901-1958), der seinerseits seine Erlebnisse im KZ Sachsenhausen in der Autobiographie »Zwischen Karneval und Aschermittwoch« verarbeitete. Über Rudolf Welskopf schreibt er:
Rudolf war Genosse und einer von jenen klarsichtigen, zuverlässigen Menschen, um die man uns beneidete. Mittelgroß, kräftig, mit einem Gesicht, das mich in seiner Besonnenheit und Ruhe immer an einen Indianerhäuptling erinnerte. Mit seinen schmalen, dunklen Augen, mit den gerade darüber gespannten, fast zusammenstoßenden Augenbrauen glich er einem Inka, dessen Wort viel im Stamme gilt. Es galt auch viel bei uns, obwohl er sparsam mit Worten umging. Zehn Jahre Zuchthaus hatten diesen Revolutionär nicht brechen können; dabei hatte er Furchtbares von den Wölfen erdulden müssen. In dem Lager Lichterfelde war er einer der führenden Genossen. Er verstand es immer, gegen den Willen der Nazis Hilfsaktionen für die vollkommen ausgemergelten Ukrainer und Franzosen zu organisieren.33
33 Grundig, Hans: Zwischen Karneval und Aschermittwoch – Erinnerungen eines Malers. Berlin: Dietz Verlag 1978, S. 400.
1946, Hans Grundig
Schließlich bereitet Liselotte Welskopf-Henrich 1944 die Flucht des ihr kaum bekannten Rudolf Welskopf vor und versteckt ihn bis zum Ende des Krieges im Dachgeschoss ihres Wohnhauses. Im Jahre 1947 wird sie ihn heiraten.
Während der letzten Kriegsmonate dehnen Welskopf-Henrich und Rudolf ihre Widerstandstätigkeit gemeinsam weiter aus: Über eine Bildhauerin bekommt Rudolf eine Handdruckpresse, mit der sie Flugblätter herstellen, in denen sie die deutschen Soldaten und Bürger dazu aufrufen, dem sinnlosen Kampf ein Ende zu machen, die Waffen niederzulegen und die Rote Armee willkommen zu heißen.34
34 ABBAW 6: Welskopf, Rudolf: Meine illegale Tätigkeit, 1947.
In »Jan und Jutta« arbeitet Welskopf-Henrich mit konkreten Ortsangaben bis hin zu Straße und Haustür sowie den tatsächlichen Namen der beteiligten Personen35 und begibt sich damit auf den Prüfstand jener Personen, die das Geschilderte selbst miterlebten.
35 So z. B. im Falle des jüdischen Ehepaars Schmalz, mit dem Welskopf-Henrich bekannt war und das später im KZ Auschwitz ermordet worden ist. Vgl. Welskopf-Henrich, Liselotte: Jan und Jutta, S. 193ff.
1964, Liselotte Welskopf-Henrich und Rudolf Welskopf
Der volle Wahrheitsgehalt ihrer Erzählung sowie das tatsächliche Ausmaß der Verdienste Welskopf-Henrichs für die KZ-Häftlinge werden bei der Lektüre der erwähnten Niederschrift Hans Grundigs deutlich, der sich in dankbarer Verbundenheit an ihre Hilfe erinnert:
Sogar nach außen knüpften wir unsere Verbindungen. Oft des Abends saßen Rudolf, der dem Inka glich [Welskopf-Henrichs späterer Mann], Toni und ich beisammen, um kleine Schriften zu verfassen. [...] Und das war wichtig, denn wir schrieben einer Frau, die wir hoch verehrten, die wir liebten, ohne sie persönlich zu kennen. Sie verhalf uns zu wichtigen Medikamenten und Lebensmitteln. Diese Verbindung hatte Rudolf irgendwie mitten in Berlin, in der Prinz-Albrecht-Straße, beim Aufbau des Schlosses geschaffen. Dank der Hilfe jener Frau war unser Lager frei von Furunkulose, dieser alle Lager beherrschenden eitrigen Blutvergiftung. Nur Rudolf kannte das Angesicht der Frau, und manchmal schwärmte der harte Mann ganz kindlich von ihr. [... Von] der Frau, die ihr Leben für uns wagte; denn um sie wäre es geschehen gewesen noch zu dieser Stunde, hätte der SS-Sicherheitsdienst nur den leisesten Verdacht gehabt. Durch sie erhielten wir Nachrichten von der Front, die nur den Obersten, den Goldbetressten, bekannt wurden. Brot und Wein bot sie uns, den Dürstenden, und wir gaben beides weiter, unseren Menschen. Heute bin ich mit dieser Frau befreundet. Sie heißt Liselotte Welskopf-Henrich und hat einen Roman geschrieben, in dem ihr und unser Erleben aus jener Zeit verarbeitet ist: »Jan und Jutta«.36
36 Grundig, Hans: Zwischen Karneval und Aschermittwoch, S. 408f.
Welskopf-Henrich bekommt den Bericht Grundigs vor seiner Veröffentlichung zu lesen und ist tief bewegt. In einem Brief an Grundig schreibt sie:
Ich habe in den schweren Jahren in Gedanken und Gefühl mit aller meiner Phantasie von morgens bis abends mit Euch gelebt, und in dem, was Du erzählst, kam mir mein eigenes Miterleben wieder ganz zum Bewusstsein. Ich war wieder bei Euch, und ich fühle mich auch heute noch mitten unter Euch, unter Euch, die die inneren und äußeren Merkmale jener Zeit nie verlieren werden, die anders und tiefer geprägt worden sind als andere Menschen. Ich bin sehr glücklich, sehr stolz, sehr dankbar, dass Ihr gern an mich gedacht habt, und ich verdanke