Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer. Erik Lorenz
zu lügen, »um das innerhalb von nur drei Jahren von 60 in- und ausländischen Wissenschaftlern geschaffene Gemeinschaftswerk – eine wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Leistung, von der er selbst nicht mal träumen konnte – zu Fall zu bringen«.11
11 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 245.
Welskopf-Henrich wehrte sich: Sie schrieb an den Leiter des Forschungsbereiches Gesellschaftswissenschaften und an den ersten Sekretär der SED-Kreisleitung, der dem Präsidium der AdW angehörte und die höchste Partei-Instanz an der Akademie verkörperte, und sie machte deutlich, dass Verzögerungen nicht hinnehmbar seien. Sie habe nicht Tag und Nacht gearbeitet, um die internationale Gemeinschaftsarbeit zu koordinieren und innerhalb von drei Jahren zur Fertigstellung zu bringen, damit das Manuskript nun auf unabsehbare Zeit in einer Schublade verschwinde. Sie kontaktierte den Direktor des Akademie-Verlags, forderte selbst Gutachten an, setzte Briefe auf, telefonierte, bestand auf persönliche Gespräche, drängte und trieb an. »Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub mehr«.12
12 Welskopf-Henrich an Kalweit, Brief vom 31.7.1972. Siehe auch Stark, Isolde: Konferenzband, S. 246.
Da kam ihr die Bitte der Zeitung »Neues Deutschland«, einen kleinen Text für die Rubrik »Woran arbeiten Sie?« zu verfassen, gerade recht: Mit enthusiastischen Worten kündigte sie die Veröffentlichung der vier Poleis-Bände innerhalb der nächsten Monate an und setzte so den Akademie-Verlag unter Druck. Trotzdem blieben Widerstände bestehen. Stellungnahmen wurden ausgetauscht, Besprechungen fanden statt; es war ein zermürbendes Hin und Her. Monate verstrichen, und Hermann praktizierte weiter seine Hinhaltetaktik. Das Gutachten, das er angefordert hatte, ließ weiter auf sich warten. Als Welskopf-Henrich nachhakte, behauptete Hermann wider besseren Wissens, der Gutachter sei viel beschäftigt gewesen und nun erst seit einem Monat mit der Angelegenheit befasst, doch Welskopf-Henrich kannte die Wahrheit und korrigierte den Institutsdirektor sofort. Später lag das Gutachten Hermann zufolge endlich handschriftlich vor, doch es ließe sich angeblich beim besten Willen keine Sekretärin abstellen, um es abzutippen. Als das Gutachten auch noch verhalten-kritisch ausfiel, drohte das Projekt endgültig auf Eis gelegt zu werden. Dann nahte der 7. Oktober, und im Rahmen der Feierlichkeiten zum 33. Geburtstag der DDR erhielt Welskopf-Henrich den Nationalpreis. Den Empfang beim Staatsrat nutzte sie, um einflussreiche Unterstützer zu gewinnen. Endlich wurde das Werk gedruckt.
Nach dieser Niederlage versuchte Hermann nun also, seinen Mitarbeitern zumindest die Arbeit an Welskopf-Henrichs nächstem Projekt, »Soziale Typenbegriffe«, zu verbieten. »Die betroffenen Kollegen beriefen sich daraufhin auf die Freiheit, in ihrer Freizeit machen zu können, was sie wollten, und erklärten somit ihre Arbeit an den ,Typenbegriffen‘ zum Hobby.«13
13 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 250.
Welskopf-Henrich suchte sich immer genau die Leute aus, die sie für ihre eigenen Arbeiten brauchte oder haben wollte. So auch Gert Audring, der im Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie arbeitete. Ob sich Welskopf-Henrich damit den Unwillen des Institutsdirektors Hermanns zuzog, kümmerte sie nicht weiter. Hermanns Macht war ohnehin eingeschränkter als bisher: Die »Sozialen Typenbegriffe« unterlagen nicht mehr der Planung des ZIAGA. Welskopf-Henrich kam für das Projekt in noch bedeutenderem Maße als zuvor selbst auf und sicherte sich so eine größere Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit, die es ihr auch erlaubte, private Mitarbeiter einzustellen, wurde Welskopf-Henrich vor allem durch ihre solide finanzielle Situation ermöglicht, die auf ihren belletristischen Erfolgen beruhte. Das Geld, das sie durch ihre Bücher und den Film »Die Söhne der Großen Bärin« verdiente, gab sie nahezu komplett für ihre wissenschaftlichen Projekte aus. Da die Projekte somit nicht von den Genehmigungsprozeduren der bürokratischen staatlichen Wissenschaftsorganisation abhingen, brauchte Welskopf-Henrich keine Reglementierungen zu fürchten.
Die Wissenschaftler, die für sie arbeiteten, schätzten sie sehr, so dass sie sich stets mit Freuden an ihren Projekten beteiligten. Sie wussten, dass da jemand die Fäden in der Hand hielt, der selbst fleißig arbeitete und den Überblick besaß. Und Liselotte Welskopf-Henrich hat in der Tat unglaublich viel gearbeitet; in Phasen extremer Belastung aß sie Kaffeepulver, um sich wachzuhalten.
Auch Detlef Rößler war einer ihrer Mitarbeiter und über lange Zeit Welskopf-Henrichs Assistent. In regelmäßigen wissenschaftlichen Beratungen und intensivem, auch politischem, Gedankenaustausch lernte er sie gut kennen. In einem Gespräch mit dem Autor beschrieb er Welskopf-Henrich als kleinere, etwas korpulente, freundlich-zurückhaltende, ein wenig mütterlich und einfach wirkende Frau mit einem gütigen Gesicht, die sich gern an der Natur erfreute. Doch in den zahlreichen Diskussionen mit ihr sei ihm die wahre Größe dieser Frau wieder und wieder bewusst geworden.
Liselotte Welskopf-Henrich erlaubte sich auch ein wenig Luxus: So fuhr sie prinzipiell Taxi; auch wenn es nur kurze Strecken zurückzulegen galt. Aber auf der anderen Seite war sie völlig einfach und genügsam in ihrer Lebensweise. Ging sie einkaufen, zog sie beispielsweise gern mit einem alten Kinderwagen los.
»Sie hätten die Frau mal sehen sollen, wenn sie um die Ecke kam!«, erinnerte sich Welskopf-Henrichs Kollege Audring lachend. »Sie hatte so einen grauen Mantel an, ein Tuch um den Kopf und einen klassischen Haarknoten, und dann dieser tiefe Kinderwagen mit solchen kleinen Rädern. Dass das die reichste Frau von Treptow war, hätte man nie geglaubt, weil sie eben ziemlich bescheiden aussah. Absolut bescheiden im Äußeren und dann ganz versessen auf ihre Schriftstellerei.«
Walter Eder beschreibt seine Erinnerung an Welskopf-Henrich wie folgt:
Sie hatte sehr wache Augen, aber sehr strenge Augen. Sie konnte sehr streng auf einen schauen und war aber – in den paar kurzen Stunden, in denen ich mit ihr sprechen durfte – eine eigentlich ganz freundliche Frau.14
14 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 299.
Welskopf-Henrich gewährte ihren Mitarbeitern viele Freiheiten, nicht nur hinsichtlich der Arbeitsweise, sondern auch, was die Beiträge für die verschiedenen Bände betraf, deren Herausgeberin sie war.
Rößler selbst war zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit Welskopf-Henrich noch sehr jung und verfasste in der »Hellenischen Poleis« seinen ersten größeren Aufsatz. Dennoch ließ ihm Welskopf-Henrich völlig freie Hand. Lediglich einige Füllwörter wie »und« oder »auch« strich sie aus dem fertigen Aufsatz – sehr zur Unzufriedenheit des damaligen Anfängers Rößler, der letztendlich jedoch sämtlichen Korrekturen beipflichtete. Dank ihrer Tätigkeit als Autorin wusste Welskopf-Henrich, wie man verschiedene Dinge am besten darstellte und konnte sich auf der Bühne der Sprache und Formulierungen sicher bewegen.
Bei wissenschaftlichen Problemen diskutierte Welskopf-Henrich lebhaft, versuchte bei kleineren Meinungsverschiedenheiten jedoch nicht, ihre Diskussionspartner zu überreden. Unter ihren Angestellten und Kollegen galt sie als tolerant. Dies betont auch Stark, die unter Welskopf-Henrich ihre Doktorarbeit verfasst hat.
Für Rößler war der für die DDR ungewöhnliche »Hauch von Internationalität« beeindruckend, der durch das Haus Welskopf-Henrichs wehte. Kam eine Diskussion angesichts einer schwierigen Fachfrage ins Stocken, griff sie häufig zum Hörer, um beispielsweise János Harmatta, einen berühmten Altertumswissenschaftler aus Budapest, oder andere weltweit tätige Kollegen und Bekannte anzurufen und deren Meinung zu der aufgeworfenen Frage einzuholen.
Zu verschiedenen Anlässen lud sie auf eigene Kosten Kollegen aus aller Welt nach Berlin ein, damit diese an Tagungen oder Kolloquien mit Vorträgen teilnehmen konnten. Die Studenten lernten bei solchen Gelegenheiten internationale Leistungsstandards kennen