Chronik von Eden. D.J. Franzen
entgegensetzen.
Jessica begann zu weinen und wachte daran auf. Als sie die Augen öffnete, konnte sie am anderen Ende des Zimmer gerade noch ein dunkles Schemen erkennen, das sich schnell und leise zurückzog.
Sie sah an sich herunter und fragte sich, ob es nur ein Albtraum gewesen war, das Schemen ein letzter Nachklang davon, den ihr noch umnebelter Geist mit in die Wirklichkeit herübergenommen hatte. Dann entdeckte sie, dass ihre Jeans geöffnet und bis an die Knie heruntergezogen war.
*
Der Tag versprach herrlich zu werden. Über den nahen Feldern lag Morgennebel, der langsam von der Sonne vertrieben wurde. Nach einer ruhigen und ungestörten Nacht waren die Pilger früh erwacht und nahmen nun ein karges Frühstück zu sich.
»War irgendwas heute Nacht?«, wollte Sandra kauend von den Männern wissen, von denen ebenfalls wieder jeder eine Wache übernommen gehabt hatte.
Dreifaches Kopfschütteln antwortete ihr. Sandra bemerkte nicht, dass Jessica bei ihrer Frage den Kopf gehoben, dann aber schnell wieder gesenkt hatte und nun noch eifriger damit beschäftigt war, die Pampe hinunterzuwürgen, die man notdürftig aus Haferflocken, Wasser und ein wenig Zucker zusammengerührt hatte.
Nach dem Frühstück bestand Patrick darauf, mit den Kindern zu beten und ein Lied zu singen. Sandra ließ ihn gewähren, obwohl man ihr deutlich anmerkte, dass sie am liebsten sofort aufgebrochen wäre.
Schließlich war es dann soweit. Die Gruppe trat vor das Haus, in dem sie die Nacht verbracht hatte, und atmete die frische Morgenluft. Die Sonne war mittlerweile höher gestiegen, der Nebel hatte sich vollständig aufgelöst.
»Wir müssen da hin.« Sandra deutete nach Süden. »Dort muss sich der Fliegerhorst befinden.«
Für einen Moment sah es so aus, als ob Stephan etwas sagen wollte, aber dann schloss er den Mund einfach wieder und nickte.
»Also los jetzt!«, trieb Sandra die anderen an. »Wenn wir uns ranhalten, können wir gegen Mittag dort sein. Dann bekommt Gabi auch endlich das Medikament, das sie so dringend braucht.«
*
Wieder nahmen sie den Weg durch die Felder. Irgendwie rechnete jeder in der Gruppe damit, dass der weiße Hund jederzeit auftauchen könnte, aber dieser ließ sich nicht blicken. Mit den Zombies verhielt es sich ebenso, es war weit und breit nichts von ihnen zu sehen.
Nach wie vor mussten die Pilger immer wieder längere Pausen einlegen. Gabis Gesundheitszustand hatte sich weiter verschlechtert. Aus ihrer Kehle drang ein schleimiges Röcheln.
»Willst du dich nicht wenigstens das letzte Stück tragen lassen?« Sandra sah das Mädchen mitfühlend an. »Es ist nicht mehr weit, und Patrick oder Stephan lassen dich sicher gerne auf ihren Schultern reiten.«
Beim letzten Satz fing Gabi an, wild um sich zu schlagen und zu kreischen. Mit viel Phantasie konnte man die spitzen Schreie als »Nein! Nein! Nein!« interpretieren. Die nackte Panik stand in das Gesicht des Mädchens geschrieben, welches knallrot angelaufen war, und in dessen Farbe sich jetzt auch ein ungesund wirkender Blauton zu mischen begann.
»Schschschsch, ist ja gut.« Sandra sprach beschwichtigend auf Gabi ein. »Wenn du nicht willst, dann trägt dich eben niemand. Schschschsch.«
Stephan verdrehte die Augen. »Mit ihrem Gebrüll hetzt sie uns noch alle Freaks von hier bis München auf den Hals. Verdammt, bring das Gör zum Schweigen, sonst mache ich es!«
»Sie beruhigt sich ja schon.« Sandra sah Stephan mit einem warnenden Blick an. »Und du lässt deine Finger von ihr, wenn du deine Hände behalten willst, verstanden?«
»Das will ich sehen.«
Stephans gesamte Körperhaltung war übergangslos pure Provokation. Fast im gleichen Moment befand sich der Lauf einer Pistole genau zwischen seinen Augen, der Hahn der Waffe war gespannt.
»Atme auch nur ein wenig zu hastig, und ich drücke ab.« In Sandras Stimme klirrten Eiskristalle. »Dass mit dir etwas nicht stimmt, war mir von Anfang an klar, und ich werde auch noch dahinter kommen, worum es sich dabei handelt. Was aber viel wichtiger ist: Tu einem der Kinder irgendetwas an, egal was, und wenn es auch noch so wenig ist, und du bist tot. Ich habe dich nur mitgenommen, weil du gut kämpfen kannst und weil die Gruppe einen weiteren Erwachsenen, der für Schutz sorgt, gut brauchen kann. Mach nicht den Fehler, diesen Vorteil zu überschätzen oder gar zu verspielen.«
Stephan schluckte trocken. »Hey, ist ja gut, alles easy, okay? Ich hab das doch nicht so gemeint. Du weißt genau, dass ich den Kindern niemals etwas antun könnte, ich mag Kinder über alles. Wenn ich als junger Mann geheiratet hätte, wäre ich jetzt der Vater einer ganzen Horde dieser kleinen Racker.«
»Ich frag jetzt besser nicht, warum ihn keine wollte«, murmelte Martin so leise, dass niemand ihn verstand. Trotzdem glaubte er in den Gesichtern von Sandra und Patrick denselben Gedanken zu lesen.
Patrick räusperte sich. »Ich denke, er hat es verstanden, Sandra. Du kannst die Pistole also wieder runternehmen.«
»Das hoffe ich für ihn, dass er es verstanden hat«, zischte sie. »An diesem Punkt verstehe ich nämlich keinen Spaß. Überhaupt keinen!«
Sie starrte Stephan noch ein paar Sekunden in die Augen, dann senkte sie ihre Waffe und steckte sie weg. Demonstrativ drehte sie sich zu Gabi um und kümmerte sich wieder um das Mädchen, welches sich mittlerweile beruhigt hatte.
»Na, wieder alles okay?«
Gabi nickte stumm, dabei wischte sie sich unbeholfen die Tränen aus den Augen.
»Bald sind wir in Sicherheit.« Sandra zwang sich zu einem Lächeln. »Die Männer dort werden dann auf uns aufpassen, und sie haben sicher auch Medizin für dich.«
Als sich Gabis Gesichtsfarbe vollends normalisiert hatte und das Mädchen wieder einigermaßen Luft bekam, setzten die Pilger ihre Wanderung fort.
*
Wie Sandra es vermutet hatte, erreichte die Gruppe gegen Mittag das Gelände des Fliegerhorsts. Hier war ihre Wanderung jedoch zuerst einmal zu Ende, denn es wimmelte geradezu von Zombies. Diese umringten den Zaun, als gäbe es drinnen etwas umsonst – was aus ihrer Sicht vermutlich auch stimmte, denn allem Anschein nach war der Stützpunkt tatsächlich noch besetzt, und zwar mit lebendigen, warmen Menschen.
»Da kommen wir niemals rein, ohne dass sie uns am Wickel haben«, flüsterte Martin. »Es sind einfach zu viele.«
»So schnell gebe ich nicht auf«, gab Sandra ebenso leise zurück, wobei ihre Stimme entschlossen klang. »Irgendwo muss es ein Durchkommen geben.«
»Das hätte sich manch mittelalterlicher Burgherr sicherlich auch gewünscht«, war es nun an Patrick, den Pessimisten zu geben. »Doch auch damals schon waren die Belagerungsringe nicht zu überwinden, was in der Regel damit endete, dass die Insassen der angegriffenen Burg irgendwann vor Durst und Hunger aufgeben mussten.«
»Wir sind aber nicht im Mittelalter, der Fliegerhorst ist keine Burg, und die Zombies sind keine Krieger, sondern tumbe Fressmaschinen. Wenn dem nämlich nicht so wäre, hätten sie das bisschen Zaun, was zwischen ihnen und ihren ›Leckerlis‹ steht, schon längst überwunden und würden satt und rülpsend in der Sonne liegen.«
»Du magst zwar mit dem, was du sagst, recht haben, aber deine Art, dich auszudrücken, finde ich trotzdem ein wenig befremdlich.« Patrick sah Sandra tadelnd an. »Denk doch bitte an die Kinder.«
»Ich denke an nichts anderes.« Sandra reckte angriffslustig das Kinn vor. Kurz schien sie zu überlegen, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder. »Wir sehen uns hier mal ein wenig um. Und falls wir tatsächlich keine Möglichkeit finden sollten, da reinzukommen, können wir uns immer noch überlegen, was wir als nächstes tun wollen.«
*
Eine halbe Stunde später schien ihnen das Glück in der Tat wieder hold zu sein. Die Pilger hatten den großen Parkplatz, der vor den Toren des Fliegerhorsts