Chronik von Eden. D.J. Franzen
Und warum versucht du dann, eine Rille in den Teppichboden zu gehen?«
»Wie?« Sandra blieb stehen und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ach so, das. Dieses Herumgesitze macht mich wahnsinnig.«
»Es war deine Entscheidung, die Nacht hier zu verbringen.«
»Das weiß ich selbst. Schließlich habe ich mein Gehirn nicht mit irgendwelchen Drogen ruiniert. Du wirst es kaum glauben, aber ich kann mich abends durchaus noch daran erinnern, was ich mittags gesagt habe.«
»Es war nicht böse gemeint.«
»Das will ich dir auch geraten haben, denn schließlich bist du einer der beiden Gründe, warum ich mich überhaupt entschlossen habe, hier einen weiteren halben Tag zu verlieren, anstatt endlich in die Sicherheit des Fliegerhorsts zu gelangen.«
Martin wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Wieder einmal stellte er fest, dass er sich zu Sandra hingezogen fühlte, egal wie gemein, ruppig und kalt sie auch mit ihm umsprang. Er fragte sich, ob diese Frau selbst überhaupt wusste, über welche Kraft sie verfügte? Hätte er sie schon vor ein paar Jahren kennengelernt, hätte er das mit dem Nasenzucker vielleicht nie angefangen. Dann riss ihn Sandras Stimme aus seinen Gedanken.
»Wenn es dunkel wird, hauen wir uns alle hin. Vorher werden noch die Wachen eingeteilt. Bleibst du dabei, dass du auch eine übernehmen willst?«
Martin nickte stumm.
»Gut. Ich mache auf jeden Fall die Schicht vor dir. Wenn ich dich wecke, schaue ich mir genau an, ob du auch wirklich dazu in der Lage bist.«
*
Patrick hatte die zweite Schicht der Nachtwache. Er fand das logisch, denn auf diese Weise hatte Sandra die dritte und Martin die letzte, so dass sich dieser noch einmal gründlich ausschlafen konnte, bevor er für die Sicherheit der anderen zuständig war.
Der Entzug des jungen Mannes schien merkwürdigerweise in Wellen zu verlaufen. Patrick hatte noch nie gehört, dass das der Fall war, aber er kannte sich auch nicht wirklich gut mit so etwas aus. Vielleicht war es ja auch einfach ein Geschenk des Herrn, der damit dafür sorgte, dass auch Martin seinen Teil zum Schutz der Gruppe beitragen konnte.
Unwillkürlich sank Patrick auf die Knie und schickte ein kurzes, aber inbrünstiges Gebet zu seinem Gott. Er dankte darin für die sichere Unterkunft für die Nacht, die Nahrungsmittel und die Medikamente. Und natürlich auch dafür, dass sie alle noch am Leben waren.
Ja, es war ein Wunder, wie glatt alles gelaufen war, nachdem sie Köln erst hinter sich gelassen hatten. Nicht nur, dass sie keine Verluste zu beklagen hatten, ihre Gruppe war seither sogar größer geworden. Und mit den verlorenen Seelen, mit denen sie es bislang zu tun bekommen hatten, waren sie auch ohne nennenswerte Probleme fertig geworden. Möge der Herr geben, dass das so blieb!
Patrick stellte erfreut fest, dass der Glaube in ihm wieder größer geworden war. Er war sein Anker, sein Halt in diesen turbulenten Zeiten. Als er heute Mittag gesagt hatte, dass man in Gottes Wort Trost finden konnte, war das kein leeres Geschwätz gewesen.
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er noch daran gezweifelt, war sich wie ein Lügner vorgekommen, der nur Phrasen drosch, die man von einem Mann seines Standes erwartete. Aber nun erschloss sich ihm endlich wieder, was es bedeutete, seine Wurzeln im Glauben zu haben.
Und noch etwas anderes spendete ihm Trost. Nein, das war nicht das richtige Wort. »Vergessen« traf es besser, vielleicht auch »Linderung«. Patrick nahm einen großen Schluck aus der Flasche mit Klarem.
Er hatte diesen kleinen Schatz mit den anderen teilen wollen, doch diese hatten abgelehnt. Nun, das war deren Sache. Schon im Mittelalter hatten die Mönche gewusst, dass der Alkohol ein Geschenk Gottes war, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Manche vermuteten sogar, der Heilige Geist höchstpersönlich würde diesen Stoff mit seiner Essenz zu dem machen, was er war, aber das ging Patrick zu weit. Man musste die Geschenke des Herrn auch akzeptieren können, ohne zu viel hineinzudeuten. Und von der zweiten Flasche, die direkt hinter der ersten gestanden war, und die sich nun in seinem Rucksack befand, brauchte er den anderen vorerst ja nichts zu erzählen.
Patrick trat vors Haus in die kühle Nachtluft. Einen Moment lauschte er in die Dunkelheit, aber es war nichts zu hören. Der Himmel war wolkenlos, und das Licht der Sterne erhellte die Szenerie. Alles wirkte friedlich, so als sei nie etwas geschehen.
Aber das täuschte. Patrick wusste ganz genau, dass jeden Moment eine der verlorenen Seelen auftauchen konnte. Die arme Kreatur würde keinen Moment zögern und auf ihn losgehen, so dass ihm nichts anderes übrigbleiben würde, als sie von ihrem irdischen Leid zu erlösen.
Manchmal kamen ihm in solchen Momenten Zweifel, ob er das richtige tat, ob es wirklich das war, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Wenn es nun doch der Teufel, dieser dunkle und hinterlistige Verführer, war, dessen tückischen Einflüsterungen er unterlag? Der Gehörnte war schon immer ein Meister der Täuschung gewesen.
Patrick musste an den Traum denken, den er vor gar nicht allzu langer Zeit gehabt hatte. Darin war ihm eine wunderschöne strahlende Lichtgestalt erschienen, die sich ihm dann als Luzifer vorgestellt hatte. Luzifer, der gefallene Engel!
Aber das konnte nicht sein. Patrick winkte unwillig ab. Es war nur ein Traum gewesen – ein Alptraum, wenn er genau darüber nachdachte. Auch damals hatten ihn die Zweifel geplagt, und diese hatten sich dann offenbar zu einem schrecklichen Nachtmahr verdichtet.
Er spürte deutlich, dass er jetzt wieder auf dem richtigen Pfad war. Der Unterricht mit den Kindern hatte ihm nicht nur Freude bereitet, sondern auch gezeigt, dass es richtig war, was er tat. Als sie am Schluss noch ein einfaches Kirchenlied gesungen hatte, waren seine Augen vor Rührung feucht geworden. Etwas, das sich so wunderschön anfühlte, konnte nicht verkehrt sein.
Aus dem Augenwinkel nahm Patrick plötzlich etwas wahr. Sofort hob er Schild und Streitkolben an und konzentrierte alle Sinne auf die betreffende Stelle. Dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können.
Über dem Rasen des Vorgartens schwebte ein kleiner Lichtpunkt. Im ersten Moment konnte man ihn für ein Glühwürmchen halten, aber der Punkt bewegte sich nicht, stand einfach ruhig in der Luft.
Dann fing das Licht an zu wachsen, wurde größer und größer, ohne dabei an Leuchtkraft zu verlieren. Schließlich begann sich eine Gestalt zu formen, deren Umrisse an die eines Menschen erinnerten. Patrick starrte mit aufgerissenen Augen auf die Erscheinung.
Plötzlich flackerte die Gestalt, schien instabil zu werden. Sie verfestigte sich noch einmal kurz, dann verblasste sie vollends.
Ohne zu merken, was er tat, sank Patrick auf die Knie, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Herr, lass mich bitte nicht alleine! Ich bin dein treuer Diener, war es schon immer.«
Dann kamen ihm Zweifel. Warum war die Lichtgestalt wieder verschwunden? War sein Glaube noch nicht stark genug? Je länger Patrick darüber nachdachte, umso mehr kam er zu dem Schluss, dass nur dieser die Energiequelle für die Erscheinung sein konnte.
Vor lauter Glück schienen ihm die Sinne zu schwinden. Das war der Beweis! Er war auf dem richtigen Weg. Der Herr unterzog sie alle einer Prüfung, und nur diejenigen, die stark genug im Glauben waren, würden sie bestehen.
Und nicht nur das. War ihr Glaube erst einmal weit genug gefestigt, dann würde sich die Lichtgestalt endlich vollends manifestieren können und ihnen dabei helfen, das alles hier zu bewältigen.
*
Tom fühlte sich leicht, er schien zu schweben. Doch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, tauchten Gabi, die Zwillinge Karl und Kurt sowie Melanie in seinem Blickfeld auf. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie alle schwebten mehrere Zentimeter über dem Boden!
Ein gutes Stück entfernt erschienen weitere Gestalten. Obwohl sie eigentlich zu weit entfernt waren, um Einzelheiten zu erkennen, wusste Tom sofort, dass es sich dabei nur um Gerhard, Jonas, Michael, Peter und Rosi handeln konnte. Die Kinder kannten sich zwar erst ein paar Tage, trotzdem waren sie bereits