Chronik von Eden. D.J. Franzen
In diesem Moment manifestierten sich vier weitere Kinder in ihrer Nähe. Es handelte sich um Jessica, Mark, Miriam und Regina. Freudig wurden sie von den anderen begrüßt.
»Wo sind wir hier?« Jessica sah sich staunend um. »Das ist nicht die Wirklichkeit, oder?«
»Zumindest nicht die Wirklichkeit, die die anderen Menschen kennen, die nicht so sind wie wir.« Tom grinste. »Aber es ist Teil unserer Realität, eine Realität, in der wir frei von den Dingen sind, die es uns in der normalen Welt schwer machen.«
Überrascht stellte Jessica fest, dass Tom statt seiner Prothese einen ganz normalen gesunden Arm hatte. Auch Gabis Gesichtszüge wirkten normal, waren nicht durch das Down-Syndrom verändert, das ihrem physischen Körper innewohnte und in der anderen Welt auch ihren Geist ein Stück weit lähmte.
»Aber wir schlafen doch.« Jessica runzelte die Stirn. »Oder sind wir wach und merken es nur nicht?«
»Ja, es ist eine Art Traum, aber auf eine sonderbare Weise auch wieder nicht. Wir sind noch nicht dahintergekommen, was es genau ist und wie es funktioniert. Derzeit wissen wir nur, dass wir uns am nächsten Morgen alle an den gleichen Traum erinnern können, also muss mehr dahinterstecken als nur ein Hirngespinst oder bloßer Zufall.«
»Und ihr habt uns hierher geholt?«
»Nicht aktiv.« Tom lächelte. »Das war nicht nötig. Alle, die so sind wie wir, und sich in unserer Nähe befinden, kommen von ganz alleine dazu. Wir haben es selbst noch nicht wirklich verstanden, aber solange es funktioniert, spielt das auch keine allzu große Rolle.«
»Martin fehlt«, stellte Gabi traurig fest.
»Martin war noch nie dabei.«
»Aber er ist doch so wie wir, oder etwa nicht?«
»Ja, ist er.« Tom schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. »Ich weiß auch nicht, warum er nicht herkommt. Irgendetwas scheint ihn daran zu hindern. Noch.«
»Du magst Martin, nicht wahr?«, wollte Miriam wissen.
»Ja, er ist nett, nicht so wie dieser Stephan. Der macht mir Angst.«
Toms Miene verfinsterte sich. »Ich weiß, was du meinst. Irgendetwas ist mit dem nicht in Ordnung. Aber Martin hat es ebenfalls bemerkt, er wird auf uns aufpassen.«
»Und was ist mit Sandra?«
»Sandra meint es gut mit uns. Aber sie kämpft mit ihrer Vergangenheit.« Tom seufzte. »Ich empfange immer wieder Gedankenfetzen von ihr, regelrechte kleine Aufschreie. Und was ich darin sehe, gefällt mir gar nicht.«
Die anderen Telepathen in der Gruppe nickten. Ihnen schien es ähnlich zu ergehen, zumindest verstanden sie, was Tom meinte, und dass ihm diese Eindrücke zu schaffen machten. Es war nicht immer leicht, die Gedanken der anderen Menschen zu ertragen, die vor allem immer dann besonders laut wurden, wenn es den Menschen nicht gut ging, oder sie besonders unter diesen Gedanken litten.
»Da!« Melanie zeigte in die Richtung, die in Toms Rücken lag, und niemand wunderte sich darüber, dass sie hier sprechen konnte. »Dort ist der weiße Hund!«
Die Köpfe der Kinder flogen herum. Staunend betrachteten sie das prächtige Tier, das viel größer war, als sie es in Erinnerung hatten.
»Was will er hier?«, hauchte Karl. »Denkst du, er ist auch einer von uns?«
»Ein Hund?« Toms Gesicht drückte Zweifel aus.
»Und wenn es gar kein Hund ist?«
»Dann würden wir ihn als das sehen, was er wirklich ist. Soweit wir bisher wissen, zeigt in dieser Ebene der Existenz jedes Wesen seine wahre Gestalt. Es geht nicht anders.«
Der Hund sah auffordernd zu den Kindern hinüber. Seine Zunge hing seitlich aus dem Maul, die Körperhaltung war entspannt.
Plötzlich drehte er sich um und ging ein paar Schritte davon. Dann blieb er wieder stehen und drehte sich erneut zu den Kindern, so als würde er auf sie warten.
»Was will er?« Melanie kratze sich am Kopf. »Meinst du, wir sollen ihm folgen?«
»Ich schätze, darum geht es. Also tun wir ihm einfach den Gefallen.«
Sanft gleitend setzten sich die Kinder in Bewegung. Als der Hund das sah, nahm er seinen Weg wieder auf. Tom und die anderen folgten ihm mit ein wenig Abstand.
Niemand konnte sagen, wie lange diese eigentümliche Wanderung wirklich dauerte, denn hier schien die Zeit ohne Bedeutung zu sein. Nach und nach veränderte sich die Landschaft, wurde üppiger und grüner. Die Natur gewann zunehmend an Kraft, und nichts erinnerte mehr daran, dass es bereits Herbst war.
Dann blieb der Hund stehen. Langsam schlossen die Kinder zu ihm auf. Als sie ihn fast erreicht hatten, löste er sich übergangslos auf und war verschwunden.
Die Kinder standen am Rand eines sanften Abhangs. Vor ihnen breitete sich ein blühendes Tal aus. Vögel zwitscherten und das glitzernde Band eines Flusses durchschnitt das Grün.
»Ist das schön!«
Niemand konnte sagen, von wem der Ausruf gekommen war, alle sogen ergriffen diesen Anblick in sich auf.
»Da sind Menschen!« Wieder war es Melanie, die die Entdeckung gemacht hatte. »Seht nur, sie scheinen fröhlich und glücklich zu sein.«
Gerade als die Kinder den Menschen im Tal zuwinken wollten, verfinsterte sich der Himmel. Mit einem Mal wurde es empfindlich kalt, und Wind kam auf.
»Ein Gewitter.« Tom kniff die Augen zusammen.
»Das ist kein Gewitter.« In Gabis Stimme lag plötzlich Panik. »Das ist der Dunkle Mann! Er stellt uns nach!«
Schweißgebadet wachten die Kinder auf.
Kapitel VII - Die Wege des Herrn
Am nächsten Morgen drängte Sandra zum Aufbruch: »Los, packt eure Sachen zusammen, wir wollen gehen.«
»Ich würde es vorziehen, wenn wir zuerst noch ein wenig Unterricht halten könnten.« Patrick sah sie fragend an. »Wer weiß, wann wir das nächste Mal einen geeigneten Ort dafür finden.«
»Das Unterrichten muss warten.« Sandras Miene verfinsterte sich. »Ich will heute den Fliegerhorst erreichen, dann sind alle in Sicherheit. Dort können Sie dann unterrichten, soviel Sie wollen.«
»Gabi geht es nicht gut«, ließ sich Tom in diesem Moment vernehmen. »Sie bekommt wieder keine Luft.«
»Dann gib ihr noch etwas von dem Spray.«
Tom schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon. Es wirkt nicht richtig.«
»Ein Grund mehr, den Fliegerhorst so schnell wie möglich zu erreichen. Dort gibt es sicher auch Medikamente.«
»Und wenn nicht?«, zeigte sich Stephan skeptisch. »Was macht dich so sicher, dass dort noch so etwas wie ›normaler Betrieb‹ herrscht, also gesunde Leute da sind, die noch über Vorräte verfügen und all das?«
»Er hat recht«, beteiligte sich nun auch Martin an dem Gespräch. »Was, wenn du mit der vermeintlichen Sicherheit des Fliegerhorstes einem Hirngespinst nachjagst?«
»Was gibt das denn hier?« Sandra schaute grimmig von einem zum anderen, dann schnaubte sie. »Probt ihr den Aufstand, oder was?«
»Vielleicht sollten wir doch erst einmal in Ruhe darüber …«, setzte Patrick an.
»Da gibt es nichts zu reden!« Jetzt wurde Sandra laut. »Ich habe euch alle heil hierher gebracht, und jetzt sorge ich dafür, dass ihr vollends in Sicherheit kommt. Ist das denn so schwer zu verstehen? Nicht genug damit, dass ich die Verantwortung für mittlerweile fünfzehn Kinder habe, anscheinend muss ich jetzt auch noch den Babysitter für drei ›große Jungs‹ spielen, die eigentlich alt genug sind, um auf sich selbst aufpassen zu können. Und zum Dank nähen mir diese drei dann auch noch eine Diskussion über die beste Vorgehensweise an die Backe. Na prima! Genau das kann ich jetzt