Der bessere Mensch. Georg Haderer

Der bessere Mensch - Georg Haderer


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      Es war die Amsel, nicht der Wecker. Dennoch stand Schäfer gleich nach dem Erwachen auf – so konnte er den Tag mit einem langen Frühstück auf dem Balkon beginnen und in aller Ruhe mit Isabelle telefonieren. Er ging ins Bad, rasierte sich, duschte. Mit einem Handtuch um die Hüfte und der Zahnbürste im Mund stellte er sich auf die Waage. Drecksding, hämisches Mistvieh, fluchte er leise, putzte seine Zähne fertig und ging in die Küche, um aus den Einkäufen vom Vortag ein ausgiebiges Morgenmahl zu bereiten.

      Nach einem Joghurt mit frischen Erdbeeren, einer Schinkensemmel, einer Marmeladesemmel und einem weichen Ei setzte er sich mit einer Tasse Tee in den Liegestuhl und nahm das Telefon zur Hand. Den Daumen schon auf der Kurzwahltaste, sah er die Zeit: nicht einmal halb sechs – das konnte er nicht bringen. Sah er eben dem glühend roten Sonnenball zu, wie der sich, unbeirrbar und ganz der souveräne Himmelsriese, der er war, über den Horizont schob und an die Arbeit machte. Nicht schlecht für dein Alter, grüßte Schäfer das Gestirn mit erhobener Teetasse, gab sich noch ein paar Minuten den Strahlen hin und holte dann seinen Laptop aus dem Wohnzimmer. Mal sehen, ob Borns Geist schon in der virtuellen Welt angekommen war. Nachdem Schäfer dessen vollen Namen in eine Suchmaschine eingegeben hatte, bestätigten die ersten beiden Ergebnisse seine Vermutung: Zwei Tageszeitungen brachten die Geschichte als großen Aufhänger auf der Startseite. Der Verräter ist immer der Gärtner, kam es Schäfer in den Sinn, als er sich durch die Bildergalerie klickte. Zuerst ein Porträt des Opfers, dann gleich ein Foto, das einen der Forensiker beim Verlassen der Villa zeigte – um die Gasmaske in seiner linken Hand hatten die Bildbearbeiter einen roten Kreis gezogen. Dass Born vielleicht ganz unspektakulär seinen Kopf in den Gasherd gesteckt haben könnte, kam in den Mutmaßungen des Reporters nicht vor. Hier wurde gleich über Viren und biochemische Kampfstoffe spekuliert. Gut, Schäfer wusste, dass die Zeitspanne zwischen einem unübersehbaren Auftreten der Polizei und einer entsprechenden Pressemeldung die Boulevardmedien und ihre Leser ungleich mehr erregte als Tatsachen – die geile Kluft zwischen Fiktion und Fakten. Was Schäfer tatsächlich überraschte, war, dass sein Handy noch kein einziges Mal geläutet hatte. An der Uhrzeit konnte es nicht liegen. Bei den zahlreichen Gefallen, die er ein paar Journalisten schuldig war, hätte er sich über einen Anruf um halb sieben nicht einmal ärgern dürfen. Am besten, er blockierte rechtzeitig aktiv die Leitung.

      „Guten Morgen … Natürlich … Ich auch gerade … Die haben keine Semmeln? … Soll ich dir welche schicken? … Auch wieder wahr … Wie geht’s dir? … Das verstehe ich … Na ja, ich bin schon lange nicht mehr umgezogen … Einen alten Baum … Das war ein Scherz, ich fühle mich gut, bis auf … Ja, hab ich … Bis gestern noch ruhig … Hermann Born … Genau der … Dem hat einer Phosphorsäure über den Kopf gegossen … Wenn ich das wüsste, könnte ich den Fall abschließen … Ja, den Namen hab ich schon einmal gehört … Sechsundneunzig? Und der soll den Prozess überleben? … Nein, sicher bin ich dafür, dass so einer verurteilt wird, was glaubst du … Sicher kenne ich die Baumgartner Höhe, ist meine Laufstrecke … Ja, in der Ausstellung war ich vorigen Monat mit einer Schulklasse, habe ich dir eh erzählt … Natürlich … Kommst du am Wochenende? … Verstehe … Ja, stress dich nicht … Ich denke nicht, dass wir den in den nächsten Tagen schnappen … Wäre schön, ja … Ist gut … Jederzeit, und wenn du was brauchst … Mach ich … Du auch … Bis bald.“

      Er legte das Telefon weg, atmete tief durch und legte sich die linke Hand aufs Herz. Wie bei einem Teenager, lächelte er wehmütig. Und noch mindestens zwei Wochen … vielleicht konnte er ja eine falsche Spur nach Den Haag legen. Isabelle arbeitete dort gerade an der Anklage gegen einen neunzigjährigen Arzt, der vor ein paar Monaten von Argentinien ausgeliefert worden war. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er in einer Klinik auf der Baumgartner Höhe unter dem Vorwand medizinischer Forschung Hunderte Kinder malträtiert, sie mit Pockenviren, Masern und anderen schweren Krankheiten infiziert und dann kontrolliert sterben lassen. Bitte führt die Guillotine wieder ein! Jetzt beherbergte das Klinikgelände eine der größten psychiatrischen Einrichtungen Österreichs – und seit einem Jahr auch eine Ausstellung, die sich den ermordeten Kindern widmete. Vor gut einem Monat hatte Schäfer im Rahmen eines Schulprojekts eine Oberstufenklasse dorthin begleitet. Der anschließende Vortrag, den er penibel vorbereitet hatte, war völlig misslungen. Die Bilder der Toten im Kopf, die verzweifelten Blicke der ausgezehrten und schwer kranken Kinder, wie hätte er da noch sachlich und souverän über die Beweggründe von Schwerverbrechern referieren sollen. Morgen verdorben, dachte er und warf den Rest der Semmel einem Raben zu, der ihn vom Dachsims aus schon längere Zeit aufmerksam beobachtete. Kroah, kroah, doncke, Major. Gleich darauf trat sein neuer Nachbar auf den Balkon und begrüßte ihn überfreundlich.

      „Morgen, Herr Wedekind … gute erste Nacht gehabt?“

      „Na ja … geschlafen habe ich tief und fest, aber geträumt habe ich ganz absonderlich, von einem Haus, wo ich mit meiner Tante …“

      „Das ist meistens so in der ersten Nacht oder wenn man an einem fremden Ort schläft … das hängt mit der Veränderung zusammen, die das Gehirn erst verarbeiten muss.“

      „Kennen Sie sich da aus … ich meine, psychologisch …“

      Verdammt, dachte Schäfer, bei dem muss ich wirklich genau aufpassen, was ich sage.

      „Nein, gar nicht … geht mir nur selber immer so, wenn ich einmal auswärts übernachte.“

      Er steckte sich die letzten verbliebenen Erdbeeren in den Mund, kaute hastig und sah dabei auf seine Uhr.

      „Na dann“, meinte er, stand auf und begann, den Tisch abzuräumen, „der Dienst ruft …“

      „Viel Erfolg, Herr Major“, erwiderte Wedekind aufmunternd, als wäre er die spanische Königin und Schäfer Columbus beim Aufbruch in den unbekannten Westen.

      Schäfer holte sein Fahrrad aus dem Keller und machte sich auf den Weg ins Kommissariat. Kauf dir endlich einen Helm, hatte Isabelle ihn zum wiederholten Mal ermahnt. Nur weil er Polizist war, beschützte ihn das noch lange nicht vor irgendwelchen unzurechnungsfähigen Verkehrsteilnehmern. Sie hat recht, dachte Schäfer, und die Liste mit den Kennzeichen der Autofahrer, die ihm in den letzten Wochen den Vorrang genommen oder sich sonst wie regelwidrig verhalten hatten, würde er demnächst wegwerfen; Windmühlenkampf; er würde noch wie Don Quijote enden, mit dem armen, auf einem klapprigen Esel reitenden Bergmann an seiner Seite.

      „Guten Morgen, Sancho Pansa“, begrüßte er seinen Assistenten.

      „Guten Morgen … Sie wissen aber schon, dass Sancho der Klügere der beiden war, oder?“

      „Natürlich … das gebe ich unumwunden zu … für wann haben Sie die Pressekonferenz angekündigt?“

      „Zehn … möchten Sie jetzt doch lieber selbst …?“

      „Nein, das machen Sie schon … ist schon was von der Telefongesellschaft gekommen?“

      „Nein … gegen Mittag …“

      „Gut … na dann … hühott, mein Knappe, auf ins Besprechungszimmer.“

      Die Gruppe war vollständig versammelt; kurz nachdem sie begonnen hatten, stieß auch Oberst Kamp hinzu, gab Schäfer wortlos zu verstehen, einfach weiterzumachen, und setzte sich an den Besprechungstisch.

      Nach zwei Stunden war die Wandtafel vollgeschrieben und die anstehenden Aufgaben grob umrissen: Geschäftsunterlagen, Kontobewegungen, politische Verbindungen, Vereinstätigkeiten, mögliche außereheliche Beziehungen … Schäfer führte die Sitzung wie ein manischer Regisseur die Einweisung seiner Schauspieler. Er selbst wollte ab Mittag mit Borns Nachbarn sprechen – Fußarbeit, die seinem Rang nicht entsprach, ihm aber aus zweierlei Gründen zusagte: Zum einen gab er seinen Mitarbeitern das Gefühl, dass er sich auch für Routinejobs nicht zu schade war; und zum anderen würde er in Bewegung sein, anstatt den ganzen Nachmittag am Schreibtisch zu sitzen. Nachdem die Besprechung beendet war, bat Kamp Schäfer in sein Büro.

      „Gut gemacht … Sie scheinen sich wieder gefangen zu haben …“

      „Ja … es geht mir gut …“

      „Sehr


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