Der bessere Mensch. Georg Haderer
es nie getan?“
Kamp stand auf und stellte sich ans Fenster.
„Warum … wofür sind wir denn sonst gut? … Ich meine das nicht negativ, schon gar nicht bei Ihnen … aber irgendwie ist es uns wohl in die Wiege gelegt … immer ein besserer Mensch sein zu müssen …“
„Entschuldigung?“, meinte Schäfer, der Kamps letzte Worte nicht begriffen hatte.
„Dass man immer ein besserer Mensch sein muss … wenn man diese Arbeit ernst nimmt … das zehrt … da wird man … aber ich will jetzt nicht wehmütig werden … wenn Sie meine Unterstützung brauchen, bin ich jederzeit für Sie da.“
„Vielen Dank, Herr Oberst“, sagte Schäfer verlegen, „das weiß ich zu schätzen.“
Er nahm die Treppe in den ersten Stock hinunter, rätselnd, was Kamp widerfahren war, dass der sich so rührselig zeigte. Das Alter? Gut vierzig Jahre war der Oberst schon im Dienst … das waren bestimmt an die tausend unnatürliche Todesfälle, überschlug Schäfer. Wie viele Tote hatte er selbst denn schon gesehen? Er wollte nicht weiter darüber nachdenken.
Bergmann wirkte angespannt, ordnete nervös seine Unterlagen, kontrollierte wiederholt seinen Stichwortzettel. Schäfer setzte sich schweigsam an den Computer und störte Bergmann nicht in seinen Vorbereitungen. Kovacs hatte ihm um halb sieben ein E-Mail geschrieben: Sie sei auf dem Weg ins Burgenland, um mit einer Frau zu sprechen, die ihnen im Fall des ermordeten LKW-Lenkers weiterhelfen könnte. Gut, nächstes Mal Absprache vor Abreise, antwortete Schäfer, der Kovacs Ehrgeiz schätzte, die lange Leine aber dennoch manchmal einzog, damit sie nicht übereifrig in die selbst gestellten Fallen lief, die Schäfer nur zu gut kannte. Nicht dass er Kovacs um diese Erfahrung bringen wollte; doch er kannte die immer noch vorherrschende Sichtweise im Polizeiapparat, die bei Fehlgriffen männlicher Beamter unscharf wurde, unterschwellig das männliche Naturell als Entschuldigung heranzog – in der Hitze des Gefechts und so weiter –, und bei Frauen sehr schnell die Kompetenzfrage stellte. Diesen Beschützerinstinkt interpretierte Kovacs freilich anders: Schäfer würde ihr weniger zutrauen, weil sie eine Frau sei, hatte sie einmal wütend gemeint, nachdem er sie an einer gefährlichen Verhaftung nicht teilnehmen ließ. Worauf er sie aus dem Büro gejagt und eine Woche mit dem Parademacho Strasser zusammengespannt hatte. Recht machen kann man es ihnen sowieso nie ganz, murmelte Schäfer, öffnete den Webbrowser und gab in eine Suchmaschine „Säureattentat“ ein. Nichts über Born auf der ersten Seite, dafür ganz oben zwei Einträge eines Pharmakonzerns, der ein neues Gel vorstellte, das den Säureangriff auf den Zahnschmelz abwehren sollte. Gleich nach der Werbung die Horrorgeschichten, mit denen Schäfer gerechnet hatte: Ägypter übergießt untreue Ehefrau mit Säure, Model nach Säureangriff durch Exfreund für immer entstellt, afghanische Mädchen nach Schulbesuch mit Säure übergossen, iranisches Gericht spricht Mann frei, der seiner Frau Säure in die Augen geschüttet hatte … Nach einer Stunde musste Schäfer eine Pause einlegen. Benommen ging er zur Espressomaschine, stellte eine Tasse ein und drehte den Schalter. Als er den ersten Schluck nahm, wurde ihm sein Missgeschick schnell bewusst. Er hatte vergessen, frisches Kaffeepulver in das Sieb zu geben. Kopfschüttelnd leerte er die Tasse in die Spüle, wusch sie aus und korrigierte seinen Fehler.
Als Bergmann von der Pressekonferenz zurückkam, fand er seinen Vorgesetzten regungslos auf den Bildschirmschoner starrend vor.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“
„Kann man wohl sagen“, antwortete Schäfer abwesend. „Mit diesen Typen ist wirklich was nicht in Ordnung …“
„Ich kann Ihnen nicht folgen …“
„Männer, die Frauen mit Säure übergießen … das scheint bei den islamischen Spinnern fast so üblich zu sein wie bei uns der prügelnde Ehemann … die Fotos dieser Frauen möchten Sie gar nicht sehen … ich meine, wenn ein Psychopath mit Frauenhass so was tut …“
„Was anderes sind die nicht … Psychopathen …“
„Ja, schon … aber was für kranke Moralvorstellungen sind das …“ Schäfer rieb sich mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel. „Da möchte man sich ja fast für das Afghanistan-Corps melden … Taliban abschießen …“
„Haben Sie auch was gefunden, das uns bei Born weiterhelfen könnte?“, bemühte sich Bergmann, Schäfers Negativspirale zu durchbrechen.
„Nicht wirklich … aber bei etwa fünfzig Säureangriffen auf Menschen, die ich durchgesehen habe, bin ich nur auf eine Täterin gestoßen … zumindest statistisch dürfen wir also davon ausgehen, dass wir es mit einem Mann zu tun haben “ Schäfer klopfte auf die Space-Taste und schloss das Internetprogramm. „Was war bei der PK los?“
„Viel für einen Mord, aber wenig für so einen …“
„Die Leute sind so abgebrüht … vor zehn Jahren hätten wir bei so einem Verbrechen ein eigenes Callcenter einrichten müssen … und heute … andererseits können wir uns so besser auf die Arbeit konzentrieren … wenn uns nicht an jeder Ecke ein Reporter auflauert …“
„Das ist mir überhaupt noch nie passiert“, meinte Bergmann fast bedauernd.
„Ach, das kommt schon noch … jetzt, wo Sie im Rampenlicht stehen … gehen Sie mit was essen?“
„Ja … in der Kantine gibt’s Dinkellasagne …“
„Brave new world“, meinte Schäfer und nahm sein Jackett vom Haken.
Während sie mit zwei Kollegen vom Dezernat für organisierte Kriminalität beim Essen saßen, besprachen sie den weiteren Tagesablauf. Bergmann hatte im Büro genug zu tun, also würde Schäfer die Befragungen allein durchführen. Kovacs war beschäftigt, die würde sich Schäfer spätestens am nächsten Tag vornehmen. Was Leitner betraf, bat er seinen Assistenten, ein Auge auf ihn zu haben. Er war mit Eifer bei der Sache, keine Frage, aber noch nicht wirklich erfahren in Mordermittlungen. Und Schreyer war sowieso ein eigenes Kapitel. Warum Schäfer ihn protegierte, war allen im Team ein Rätsel, mitunter auch ihm selbst. Dass er einen Narren an ihm gefressen hatte, traf es wohl am besten. In mancher Hinsicht war der junge Inspektor einfach nicht zurechnungsfähig; die ihn gar nicht mochten, bezeichneten ihn gar als grenzdebil. Doch Schäfer war anderer Ansicht: Er nahm bei Schreyer eher eine milde und praktische Form des Autismus wahr. Wenn er ihn etwa ins Archiv schickte, um alte Akten zu durchforsten, konnte er sich darauf verlassen, dass Schreyer kein Name, kein Datum, kein Kennzeichen, einfach gar nichts entging. Außerdem war Schäfer der Meinung, dass sein Team wie eine Theatergruppe funktionierte. Darin war Schreyer zweifelsohne die Idealbesetzung in der Rolle des Dezernattölpels; und wenn er ihn versetzen ließ oder gar kündigte, würde möglicherweise ein Idiot nachrücken, der wirklichen Schaden anrichtete.
Nach dem Essen ging Schäfer noch einmal ins Büro, um seine Dienstwaffe zu holen. Dass er sie brauchen würde, glaubte er nicht – aber das Gefühl der Nacktheit, das er ohne sie hatte, behagte ihm noch weniger als das zusätzliche Gewicht und die Schweißränder unter dem Lederriemen. Auf dem Weg in die Tiefgarage überlegte er, mit dem Rad in den neunzehnten Bezirk zu fahren. Das waren gut zehn Kilometer. Sein Anzug wäre verschwitzt, er würde keinen allzu seriösen Eindruck machen. Leicht verstimmt öffnete er die Tür des Dienstautos, rückte den Fahrersitz zurecht und startete den Motor. Eine halbe Stunde später stellte er den Wagen in der Nähe von Borns Haus ab, ging noch einmal die Liste der zu befragenden Nachbarn durch und machte sich auf den Weg. Wie oft hatte er schon in den Villen von Wiens reichsten Menschen zu tun gehabt; und immer noch fühlte er sich seltsam beklommen, wenn er an den mächtigen Gartentoren anläutete oder wie jetzt seinen Finger auf einen goldenen, blank geputzten Klingelknopf drückte.
„Jaaaaa?“, meinte eine Frau Mitte fünfzig und schaute ihn verwundert an, als wäre er ein Hausierer für Schuhbänder und Hosenträger.
„Grüß Gott, Frau Varga … Major Schäfer, Kriminalpolizei … dürfte ich kurz Ihre Zeit beanspruchen, um Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Nachbarn Hermann Born zu stellen?“
„Ja, schrecklich, was da passiert ist“, sagte sie, trat zur Seite und ließ ihn eintreten, „haben Sie denn