Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch
Frau, wenn auch mit geringem Erfolg, die Befrager mit taktischen Finten zu täuschen. Nachteilige Folgen hatten ihre Falschaussagen für sie indes kaum. Erstens schaltete auch sie schon zwei Tage später auf Kooperation um, zweitens nahm die Polizei auf ihren Gesundheitszustand Rücksicht – und in gewisser Weise schien den Beamten sogar zu imponieren, wie verzweifelt die angeschlagene Frau versuchte, ihren Mann in Schutz zu nehmen.
Doch zurück zum Schauplatz der Hauptfigur. Gegen Abend eröffnete Kommissär Pilliard, immer laut Protokoll, dem Festgenommenen:
Der Herr Bundesanwalt, der über den gegenwärtigen Stand der Untersuchung informiert ist, hat beschlossen, Sie zu seiner Verfügung zu halten und daher einen Haftbefehl gegen Sie ausgestellt, den wir Ihnen hiermit unterbreiten. Morgen wird ein Vertreter des Bundesanwalts sie anhören und Ihnen die Anschuldigung bekannt geben. Was haben Sie dazu zu sagen?
Ich nehme es zur Kenntnis.
Wir teilen Ihnen mit, dass wir Sie nach Abschluss dieser Anhörung ins Gefängnis Bois-Mermet in Lausanne überstellen werden. Haben Sie Reklamationen anzubringen über den Ablauf der bisherigen Behandlung? Wir teilen Ihnen auch mit, dass Ihre Gattin nach ihrer Einvernahme zu Hause verbleibt im Beisein Ihres Sohnes. Was antworten Sie? Ich habe keine Reklamationen anzubringen.
Mit der Abwicklung dieser Formalitäten ging der erste Vernehmungstag zu Ende. Unter den obligatorischen Vermerk am Schluss des Protokolls («gelesen und bestätigt») setzte Jeanmaire seine Unterschrift in gewohnt schwungvoller Manier, ebenso unter den Haftbefehl, den ihm Pilliard präsentierte. Zunächst hatte der Brigadier zwar Anstalten gemacht, diese zweite Unterschrift zu verweigern. Doch rasch sah er ein, dass mit Obstruktion nichts auszurichten war; als ehemaliger Militärrichter wusste er, dass man Haftbefehle zu unterzeichnen hatte. Also griff er zur Feder und signierte seine «Fahrkarte zur Hölle».15
Chefermittler Pilliard muss Bundesanwalt Gerber bereits um die Mittagszeit über Jeanmaires Aussagen ins Bild gesetzt haben. Denn um 15 Uhr verfasste dieser eine Notiz16 an seinen Vorgesetzten, Bundesrat Furgler. Sie lautet:
Br Jean-Louis Jeanmaire, Lausanne
wurde heute früh wegen Verdachts des verbotenen militärischen und politischen Nachrichtendienstes von unserem Polizeidienst angehalten und einvernommen. Die Befragung sowie die ebenfalls angeordneten Hausdurchsuchungen sind noch im Gang. Vorläufiges Ergebnis: Jeanmaire gibt zu, den Russen gewisse klassifizierte Dokumente ausgehändigt zu haben, u. a. eine «ordre de bataille». Offenbar als Gegenleistung will er ein Fernsehgerät erhalten haben.
Sobald ich Näheres weiss, werde ich Sie orientieren.
Da Sie seinerzeit Herrn Bundespräsident Gnägi persönlich über den auf Jeanmaire lastenden Verdacht in Kenntnis gesetzt hatten, nehme ich ohne Gegenbericht an, dass Sie dies auch heute selbst tun wollen.
Offenbar im Bewusstsein, mit dieser Notiz ein Dokument in Händen zu halten, das den Beginn einer historischen Affäre anzeigte, vermerkte der Departementschef auf dem Papier in seiner steilen und etwas zackigen Handschrift die präzise Uhrzeit der Kenntnisnahme und die Anordnungen, die er in den folgenden Minuten traf: nämlich, dass er von der Bundesanwaltschaft «wünsche, über alle weiteren Massnahmen und deren Ergebnisse unverzüglich orientiert zu werden», und dass er den Bundespräsidenten jetzt und auch weiterhin selbst orientieren werde.
Am Abend jenes 9. August 1976 durften der Bundesanwalt und sein Chefermittler Pilliard einen kleinen, vorsichtigen Triumph feiern. Jeanmaire hatte angebissen, hatte seine inoffiziellen Kontakte zu den Russen und auch die Übergabe gewisser Dokumente zugegeben. Und das Verhalten seiner Ehefrau, gerade weil sie sich widerständiger zeigte als ihr Mann, lieferte ihnen zusammen mit den beschlagnahmten Agenden immerhin ein paar interessante Ansatzpunkte für die kommenden Verhöre. Um es bildlich zu formulieren: Gerber und Pilliard mochten sich fühlen wie zwei Bergsteiger, die lange vor einer Wand gewesen waren, die unbegehbar schien, und die nun einen Einstieg entdeckt hatten.
Erfolglose Suche nach Belastungsmaterial
Viel Musse, das kleine Glück des verheissungsvollen Starts zu geniessen, blieb den Ermittlern allerdings nicht. Die folgenden Tage verlangten ihnen hohe Präsenzzeiten ab. Die Verhöre gingen weiter, und eine ganze Reihe anderer Erkundungen war in die Wege zu leiten.
Der kurze Augenschein im Banksafe der UBS, den die beiden Polizisten in Gesellschaft Jeanmaires vorgenommen hatten, hatte wohl eine Übersicht über dessen Vermögenslage vermittelt. Doch die Ermittler wollten tiefer graben. Jeanmaire, sagten sie sich, war von den Russen «gekauft». Also musste Geld geflossen und der Judaslohn auf irgendeinem Bankkonto versteckt worden sein.
Deshalb wandte sich die Bundesanwaltschaft brieflich an jene fünf Banken, mit denen der Verhaftete Verbindungen hatte. In den vertraulichen Schreiben, das die Bupo-Kommissäre den Direktoren persönlich zu übergeben hatten, wurden die Institute ersucht, Auskunft über Jeanmaires Bankverkehr zu geben. Freundlich, aber bestimmt formulierte der Bundesanwalt in den gleich lautenden Schreiben folgende Warnung an die Adresse der Empfänger:
Wir erlauben uns schliesslich, Sie unter Hinweis auf Art. 205 des Schweizerischen Strafgesetzbuches zu ersuchen, ohne ausdrückliches Einverständnis seitens des Unterzeichnenden oder seiner gesetzlichen Stellvertreter […] weder mit Ihrem Kunden, noch dessen Geschäftspartner, noch allfälligen Bevollmächtigten oder anderen Drittpersonen über dieses Auskunftsersuchen und die Auskunftserteilung durch Ihr Institut Rücksprache zu nehmen.17
Auf Verlangen der Bundesanwaltschaft lieferte in jenen Tagen die Generaldirektion PTT ihrerseits eine Aufstellung von Jeanmaires Postcheckverkehr seit 1973 ab, ein dickes Bündel von Listen, in denen sich – vergleichbar mit den Bankauszügen – aber lediglich ein Geldverkehr spiegelte, wie er für einen Haushalt des gehobenen Mittelstandes üblich ist.18 Bald schon gelangten die Ermittler denn auch zur Einsicht, finanzielle Interessen seien bei Jeanmaires Verrätereien vermutlich doch nicht im Spiel gewesen. «Aufgrund der bisherigen Auswertungen des finanziellen Hintergrundes liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor, aufgrund derer J. der Empfang von Geldzuwendungen nachgewiesen werden könnte», heisst es im Sachbearbeiter-Protokoll vom 20. August 1976, und eine Woche später, als die Ermittler und ihre Chefs erneut Motivforschung betrieben, hielt der Protokollführer fest: «Was das Motiv betrifft, scheint nach den heutigen Erkenntnissen Geld vermutlich keine Rolle gespielt zu haben.»19
Damit gab – obgleich noch nicht definitiv, wie sich zeigen sollte – die «finanzielle» Fährte, von der man sich etwelche Druckmittel für die Einvernahmen erhofft hatte, bald nichts mehr her.
Wenn die von der EMD-Bürokratie speditiv zusammengestellten Ausland- und Ferienabwesenheiten Jeanmaires den Ermittlern ebenfalls keine brauchbaren Anhaltspunkte verschafften, so hoffte man, wenigstens in dessen Büro an der Thunstrasse 22 fündig zu werden. Zwei Tage nach seiner Verhaftung räumten drei Bupo-Beamte im Beisein von Oberstleutnant Bachmann seinen Schreibtisch.
Das Resultat ist zusammengefasst in einem «Hausdurchsuchungsprotokoll»,20 aus dessen sieben eng beschriebenen Seiten dem Leser der Hauch des Unheimlichen entgegenweht – nicht, weil diese Seiten brisante Hinweise auf ein verwerfliches Tun enthalten hätten, sondern weil sich darin polizeiliche und buchhalterische Akribie in höchster Vollendung paarten und ein Dokument hervorbrachten, dessen Erscheinungsbild in irritierendem Gegensatz steht zu seinem banalen Inhalt. Im «Pult, Schublade oben links», im «Pult, Schublade rechts mitte» usw. fanden die Fahnder: einen Nasenspray, Heftpflaster, Mahlzeitencoupons, ein Stempelkissen, Blei- und Filzstifte, ein Couvert mit 500 Franken, dazu einen beträchtlichen Haufen Papier: Dienstreglemente, Zeitungsausschnitte, das Schul- und Kurstableau 1976, Quittungen für Geheimakten und viel Material über den Zivilschutz in andern Ländern.
Kompromittierende Dokumente? Kein einziges. Nur zwei Rubelnoten machten die Ermittler für einen Moment stutzig. Bei genauerem Hinsehen stellten sie dann fest, dass es sich um Scheine aus dem Jahr 1947 handelte.
In jener frühen Phase der Einvernahme spielte auch die technische Seite eine Rolle. Kurz bevor Bundesanwalt Gerber sein Amt angetreten hatte, waren Günter und Gisela Wolf verhaftet worden, ein deutsches Ehepaar, das in unserem Land seit 1967 unter dem Decknamen Kälin für die DDR Spionage betrieb.21