Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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Jorat gelegene Dörfchen mit seinen knapp tausend Einwohnern hatte Morat ins Herz geschlossen. Sein Name taucht wiederholt in den Rapporten auf, und jedes Mal wird auch der Grund des kleinen Umwegs vermerkt. Es war aber nicht das Geburtshaus von General Guisan, dem Morat regelmässig die Reverenz erwies, auch nicht dem renommierten Théâtre du Jorat, sondern der ortsansässigen Metzgerei, die Bratwürste und Charcuteriewaren verkaufte, welche im Ruf standen, vorzüglich zu sein.

      Einfacher gestalteten sich die Filatüren – so lautet der polizeiliche, dem Französischen entlehnte Begriff für Beschattung –, wenn Morat im Zug reiste. Aber auch dann gab es ordentlich zu tun, weil Morat eine unruhige Natur war. Am 31. Oktober 1975 etwa hielten die polizeilichen Protokollanten folgendes Verhalten fest:

      14.27 M. in der Halle des HB-SBB in Bern vom ND-Sikripo übernommen. Er ist in Eile und begibt sich sofort nach dem Quai 1. Hält sich dort beim Aufgang auf und blickt ständig nach rückwärts.

      14.33 Einfahrt des Schnellzuges aus ZH. M. drängt sich sofort durch die wartenden Reisenden auf dem Bahnsteig und belegt einen Einzelplatz. Schwarze Bügelmappe und kleine schw. Serviette legt er ins Gepäcknetz. Drängt sich sofort durch die Leute im Durchgang nach der Plattform, wo er offensichtlich nach jemandem Ausschau hält. Achselzuckend und mit sich redend nimmt er kurz vor Abfahrt des Zuges Platz.

      14.36 Abahrt des Zuges nach Fahrplan. M. gegenüber nimmt ein Herr (Typ BR Ritschard) Platz. Ca. 50-jährig, ca. 185–187 cm, Statur kräftig, trug h/blauen Anzug von der Stange. M. nahm kaum Notiz von seinem Gegenüber, welcher zwei, drei Worte in Französisch (kaum Muttersprache) mit ihm wechselt. M. liest Zeitung …. Kurz vor Ankunft des Zuges in Lausanne zieht M. den Regenmantel an, behändigt die Mappen und begibt sich auf die Plattform. Der andere Herr (erwähnt) folgt dicht auf. Kein Gespräch zwischen den beiden.

      15.43 fahrplanmässige Ankunft des Zuges in Lausanne. M. springt, wie üblich, noch im Fahren von der Bahn ab und eilt dem Ausgang zu. 2 Funktionäre des SR-VD hängen sofort an. Kontaktaufnahme mit diesen nicht möglich, da M. sich immer wieder umschaut. Überwachung des sign. Unbekannten, welcher M. im Zuge gegenüber sass. Dieser nimmt vor dem Bahnhof eine Taxe und fährt Richtung Oberstadt davon.6

      Ein anderer Rapport vermerkt:

      Während des kurzen Aufenthaltes in Romont entdeckt er durch das Fenster, auf dem Perron, einen Soldaten ohne Kopfbedeckung, lässt das Fenster herunter und schnauzt den Mann an. Er verwendet dabei (obschon in Zivil) das Wort Militärpolizei, wonach der «Kerl» sichtlich beeindruckt sein Tenu in Ordnung bringt. M lächelt verschmitzt.7

      Oder jener andere Zwischenfall:

      An der Neuengasse vor dem Restaurant Hopfenkranz legt sich Morat mit Jugendlichen an und «stürmt» mit ihnen. Ein Jüngling tituliert Morat mit Schimpfnamen (alte Seckel) und lässt ihn einfach stehen. Frau O. kann Morat zum Weitergehen veranlassen […].8

      Denkbar ist, dass die mässige Ereignisdichte während der wochenlangen Observierungen die polizeiliche Aufmerksamkeit schmälerte. Am 4. November 1975 allerdings kam bei den Beschattern Alarmstimmung auf. Dank Telefonabhörung war bekannt geworden, dass Morat in die Sowjetbotschaft angerufen und Oberst Davidov verlangt hatte. Weil Davidov nicht anwesend war, versuchte es Morat bei diesem zu Hause. Dort antwortete Frau Davidova, welcher der Schweizer Offizier sein Begehren erklärte, worauf sie umgehend ihren Mann anrief, der sich offenbar doch in der Botschaft aufhielt. Das Gespräch, das für die Bundespolizisten aus dem Russischen übersetzt wurde, verlief folgendermassen:

      Frau D: Wolodja, wann fährst Du nach Hause?

      Herr D: Etwa in dreissig Minuten. Wieso denn?

      Frau D: Komm sogleich her; ich habe Dich nötig.

      Herr D: Was? Ein Unglück?

      Frau D: Ja, was. Alles ist in Ordnung. Komm her! Um Gottes Willen komm her! Ich kann es Dir nicht am Telefon sagen. Geh nach Hause.9

      Das Protokoll vermerkt weiter: «Anfangs war Fau Davidova gefasst; aber man spürte es, dass sie sich beherrschte. Zuletzt war sie im höchsten Grade aufgeregt.»

      Was war der Grund dieser Aufregung? Morat wollte den Sowjetoffizier lediglich fragen, ob er abends vielleicht mit ihm zum Hotel Silvahof fahren könne, wo «die Italiener» einen Cocktail gaben zum Tag der Armee. Morat wohnte ganz in der Nähe der Davidovs, und da er auf solchen Cocktails gern mehr als ein Glas trank, trachtete er in der Regel danach, mit jemandem fahren zu können.

      Doch der auffällige Telefonverkehr löste eine gesteigerte, jedenfalls raumgreifende Beschattung aus.

      Ins Visier nahmen die Polizisten ausser Morat und Davidov auch Leonid Larine, der zum Militärbüro des Sowjetattachés zählte und den Gendarmen einschlägig bekannt war. Larine, in Gümligen wohnhaft, hatte sich immer wieder «aussergewöhnliche Bogen und Tricks» geleistet, war durch eine ungewöhnliche Fahrweise aufgefallen und auch dadurch, dass er, war sein Wagen in der Tiefgarage seines Wohnblocks einmal parkiert, rätselhafterweise nicht, wie man hätte annehmen können, ein paar Minuten später in seiner Wohnung erschien. Diese Eigentümlichkeit irritierte die Beamten und bewog sie wiederholt, in jene Garage zu schleichen, die Kühlerhaube zu befühlen und zu versuchen, den Kilometerstand zu eruieren. Also war es nur natürlich, dass sie sich auch am Abend jenes 4. November an die Fersen Larines hefteten. Viel schaute dabei freilich nicht heraus:

      Ungefähr um 21.11 muss L. zu Hause sein und man wartet noch etwas zu um nachzusehen, ob L. wirklich sein Domizil erreicht hat.

      21.25 wird am Domizil Nachschau gehalten, aber L. ist noch nicht in der Wohnung, kein Licht in Wohnung und Treppenhaus. Es ist somit anzunehmen, L. gehe nochmals weg oder reviere10 in der Umgebung, wie das schon früher festgestellt wurde.

      Ihre Kräfte konzentrierte die Polizei an jenem Novembertag aber auf Davidov und Morat. Tatsächlich konnte sie beobachten, wie der Russe den Schweizer abends nach 18 Uhr abholte und ihn im Auto zum Hotel Silvahof mitnahm. Und wie ein anderer Herr, der sich später als EMD-Pressechef Ernst Mörgeli herausstellte, den Brigadier wieder nach Hause brachte.11

      Den Fahndern war an jenem Abend zwar verborgen geblieben, dass Davidov sich während der kurzen Fahrt das «Reglement Zivilschutz und Luftschutztruppen Ausgabe 1972, in drei Sprachen, ein nicht klassifiziertes Reglement»12 aushändigen liess. Aber sie hatten immerhin einen Hinweis darauf, dass der Kontakt, den Morat mit dem Russen pflegte, den Rahmen des Üblichen irgendwie sprengte. Gleichzeitig aber schien ihnen sein Verhalten «vollends unverständlich», denn im Lauf jenes Herbstes hatte der Brigadier Generalstabschef Johann Jakob Vischer ersucht, ihn von den protokollarischen Verpflichtungen gegenüber den sowjetischen Militärpersonen zu entbinden, und zwar mit der Begründung, diese «Saukommunisten» stünden ständig in seinem Büro13.

      Es muss also im Kreis der Ermittler eine gewisse Ratlosigkeit geherrscht haben. Und die hielt auch an, denn in den kommenden Wochen sackte das Rendement ihrer Bemühungen wieder auf null ab. Die Rapporte der Waadtländer Polizisten, ohnehin kürzer als jene ihrer Berner Kollegen, beschränkten sich darauf, die Orte anzugeben, an denen Morat gesichtet wurde, beim Käsehändler, auf dem Steueramt, beim Pâtissier, im Lausanner Café des Philosophes, wo er regelmässig «un verre» genehmigte. Wenig Interessantes hatten auch die Berner Beamten zu vermelden, deren Tage oft am Sonnenhofweg 40 ihren Abschluss fanden. In Ermangelung zielführender Erkenntnisse verlegten sie sich darauf, zumindest die Licht- und Schattenspiele in den auf gleicher Etage liegenden Wohnungen von Morat und Fräulein Ogg aufzuzeichnen:

      18.30 ist in Morats Wohnung überall das Licht eingeschaltet. Die Nebenwohnung ist noch dunkel. Um

      18.40 wird das Licht in der Küche der Nebenwohnung eingeschaltet. Morat selbst hantiert in der Küche.

      19.20 wird die Nebenwohnung dunkel und kurz darauf kann die Mieterin in der Küche bei Morat gesichtet werden. Um

      19.25 wird die Store bei Morats Küche hinuntergelassen. Das Licht brennt jedoch. Um

      20.40 wird es in der Küche dunkel und das Wohnzimmer bei zugezogenen Vorhängen beleuchtet. Die Nebenwohnung bleibt dunkel. – Um

      21.00


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