Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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an der Yale University und studierte Literatur. Gemeinsam mit anderen Studenten gründete er das literarische Magazin «Furioso», das zeitgenössische amerikanische Poesie publizierte.26 Aber Angleton liebte nicht nur die Kultur, er hatte auch eine Neigung zur Natur. In seiner Freizeit züchtete er Orchideen und widmete sich dem Fischfang. Fischen ging ihm über alles. Weil auch der stetige Genuss von Alkoholika Teil seines Alltagsrhythmus war, legte er entlang des Flüsschens, an dem er seine Fischpacht hatte, in regelmässigen Abständen Depots mit seinen Lieblingsflaschen an.

      Fischen war, im übertragenen Sinn des Wortes, die eigentliche Berufung des James Jesus Angleton. Wie sein späterer Freund Bill Hood trat er 1943 in die Dienste des OSS ein. Als Counter Intelligence Officer wirkte er von 1944 bis 1949 in Italien und kehrte dann nach Washington zurück, wo er in der CIA-Zentrale eine steile Karriere machte und bereits 1954 zum Chef der Abwehr aufrückte. In dieser Funktion hatte es Angleton in erster Linie mit der Aufspürung feindlicher Spione zu tun, mit Doppelagenten, Überläufern, Maulwürfen und der ganzen Palette jener höchst enigmatischen, für Laien kaum nachvollziehbaren Tricks, mit denen die einen die anderen an die Wand zu spielen suchten – und umgekehrt. Während der ersten acht Jahre seiner Amtszeit führte Angleton die Abwehr effizient.27 In den 60er-Jahren allerdings nahmen seine Exzentrik und ein fast krankhaftes Misstrauen zunehmend skurrile Züge an, eine Entwicklung, hinter der eine Figur stand, die im west-östlichen Spionagetheater eine wichtige Rolle spielte: der Überläufer Anatoli Golitsin.

      Dieser Golitsin, auf Aussenposten in Helsinki, hatte Ende 1961 bei den Amerikanern um Asyl nachgefragt und sich bereit erklärt, für deren Dienste zu arbeiten. Obwohl die CIA-Funktionäre, die den abgesprungenen KGB-Major auf Herz und Nieren prüften, Anmassung, Geltungssucht und Sendungsbewusstsein in hohen Dosen diagnostizierten und seinen Charakter als problematisch einstuften, nahm ihn Abwehrchef Angleton unter seine Fittiche – und dabei blieb es über die Jahre. Angleton setzte voll auf den Russen. Da Golitsin seinem ursprünglichen Arbeitgeber den Rücken aber definitiv zugekehrt hatte, verlor er nach 1962 relativ rasch an Wert. Doch er verstand es, diesen Verlust mit weitschweifigen und reichlich abenteuerlichen Verschwörungstheorien zu kompensieren. Eine lautete etwa, der Bruch zwischen den Sowjets und China sei nichts als ein gross angelegtes Manöver, das einzig dem Zweck diene, den Westen zu täuschen. Golitsin verstand es, seine Spekulationen so überzeugend und brillant zu präsentieren, dass alles wie die Abfolge logischer Schritte aussah. Angleton war beeindruckt – und liess sich zudem vom Misstrauen anstecken, das sein Schützling allen anderen Überläufern entgegenbrachte. Golitsin scheute in der Tat keine Anstrengung, Konkurrenten, die seine eigene Position hätten schwächen können, gar nicht erst in die Nähe der US-Abwehr kommen zu lassen.

      Bis 1973 genoss Angleton stets Rückendeckung vom obersten Boss der CIA, Richard Helmes. Dann aber kam es an der Spitze der Company zu einem Wechsel. 1974 übernahm William Colby das Szepter, ein alter Rivale, der an der mentalen Gesundheit des Abwehrchefs zweifelte und seine merkwürdigen Machenschaften diskret beobachten liess. Denn mittlerweile war im Schoss der CIA gar die Vermutung aufgekommen, der in seinen Komplexen gefangene Angleton könnte selbst ein Sowjetagent sein. Am Ende jenes Jahres schickte Colby ihn in die Wüste, und mit ihm verliessen auch seine Getreuen, darunter Bill Hood, die CIA.

      Angletons Nachfolge trat der griechischstämmige George Kalaris an. Er und seine Leute hatten vorerst das Chaos aufzuarbeiten, das der Orchideenzüchter hinterlassen hatte. Sie sichteten die immensen Materialbestände, die in den Panzerschränken lagerten, fast ausschliesslich wertloser Papierkram, den sie sogleich vernichteten. Im bestgehüteten dieser Safes stiessen sie allerdings auf ein Dossier, das sie augenblicklich in ihren Bann zog: eine Liste mit den Namen von 20 GRU-Offizieren und ihren Informanten (darunter Mur und Mary), die in verschiedenen Ländern ausserhalb der USA illegalen Aktivitäten nachgegangen waren oder immer noch nachgingen. Die Quelle war ein Sowjetoffizier, der sich bereits zu Beginn der 60er-Jahre und dann nochmals 1972 eine Zeit lang in New York aufgehalten und dort mit dem FBI jeweils Kontakt aufgenommen hatte. Das FBI stufte ihn als «bona fide»-Quelle ein und leitete die GRU-Listen dorthin, wo sie richtigerweise hingehörten – zur Abwehr. Nick Nack – so der FBI-Codename dieses Agenten – war eine geradezu ideale Anwerbung. Denn er hatte nie die Absicht, zu den Amerikanern überzulaufen, sondern kehrte stets wieder in sein «Stammhaus» zurück, was ihn interessanter machte als die definitiven Überläufer. Doch Angleton sah in Nick Nack nur den Provokateur, der nichts anderes im Schilde führte, als Golitsin auszuhebeln, und versenkte die Listen, ohne sie in die zentrale Datenbank einzuspeisen, in seinem Panzerschrank. Der Abwehrchef, kommentiert Angletons Biograf Tom Mangold, hätte zeit seines Lebens kaum einen unvorsichtigeren Entscheid fällen können.28

      Wer aber war dieser geheimnisvolle Nick Nack? Vieles deutet darauf hin, dass er mit Nikolai Dimitriewitsch Tschernow identisch ist, jenem «Maulwurf», der die sowjetische Militärspionage mit besonderer Nachhaltigkeit sabotierte. Der ehemalige KGB-General Vitali Pawlow widmete ihm in seinem Werk über «geheime Missionen» ein eigenes Kapitel.29

      Danach hatte Tschernow im GRU nicht die Funktion eines eigentlichen Agenten, sondern die eines Spezialisten für die fototechnische Verarbeitung von Spionagematerial inne. Über sein Pult wanderte die aus den GRU-Residenturen im Ausland eingehende Post, Tschernow kopierte und fotografierte diese Agentenberichte und legte sich ein Inventar jener Personen an, die seine Kollegen als Informanten angeworben hatten. Als er von 1960 bis 1963 als «operativer Techniker» der GRU-Residentur selbst in den Vereinigten Staaten weilte, wurde er von den amerikanischen Diensten angeworben – mit Erfolg: Er übergab ihnen Material, das ermöglichte, in den USA wie in Grossbritannien verschiedene Sowjetagenten zu verhaften.

      1972 reiste Tschernow erneut in die USA und händigte den Amerikanern mehrere tausend Dokumente über das GRU-Agentennetz aus, ein eigentliches Who’s who, dank dem die französische Abwehr fast alle in ihrem Land tätigen Spione enttarnen konnte30 – und das auch, wie Pawlow schreibt, das Schicksal des Schweizer Ehepaars Mur und Mary besiegelte.

      Angleton-Biograf Mangold kommt bezüglich der Nick-Nack-Listen zu demselben Schluss. Als Angletons Nachfolger Kalaris jenes Material entdeckt habe, sei er ins nächste Flugzeug nach Bern gestiegen und habe «den dankbaren Schweizer Behören» die nötigen Hinweise gegeben, die direkt zur Enttarnung Jeanmaires geführt hätten. Der Autor hält weiter fest, die Verratstätigkeit des Brigadiers hätte «Jahre früher beendigt werden können, hätten Golitsins Paranoia und Angletons Obsessionen die CIA-Abwehr nicht in eine Sackgasse morbider Ängste und gelähmter Ermittlungen» hineinmanövriert.

      War Nick Nack also Nikolai Tschernow? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mit letzter Gewissheit lässt sich seine Identität nicht klären. Aufgrund der Akten lässt sich auch nicht rekonstruieren, ob – nach Bill Hoods Vorsprache im Herbst 1974 – tatsächlich erst der entschiedenere Auftritt des neuen CIA-Abwehrchefs Kalaris den Schweizern die Augen öffnete.31 Und im Dunkeln bleibt letztlich, ob die Anwerbung von Nick Nack beziehungsweise Nikolai Tschernow auf den legendären Oleg Penkowski zurückging. Dagegen scheint gesichert, dass das kompromittierende Material während Jahren ungenutzt in den CIA-Schränken lagerte.

      Alles in allem sorgten Schicksale und Zufälle auf einer grösseren Bühne dafür, dass auf der Kleinbühne Schweiz die Affäre Jeanmaire platzte. Ohne den Wechsel in der US-amerikanischen Gegenspionage wäre der Brigadier vielleicht in Ehren ergraut.

      Acht Monate waren seit Eingang des ersten Hinweises verstrichen. Acht Monate, um in der Region Lausanne einen höheren Offizier ausfindig zu machen, dessen Frau eine Beziehung zu Russland hatte. Gab es dort, muss man sich fragen, denn Tausende solcher Offiziere? Hätte die Konsultation der Personalakten oder des Militärprotokolls, in dem sich Offiziere mit Diplomatenkontakten – so auch Jeanmaire – eintrugen, nicht rascher zum Ziel führen müssen?

      Hier stösst man auf einen wunden Punkt. Natürlich war der erste Gedanke der Bupo, sich der Personalakten zu bedienen. Nur, die Abwehr hegte «dem Militär» und insbesondere dem von Divisionär Weidenmann geleiteten Nachrichtendienst gegenüber tiefes Misstrauen.32 Lange sträubte sie sich, mit den Amtsstellen des EMD Kontakt aufzunehmen. Als die Zusammenarbeit dann doch gesucht wurde und die Personalakten


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