Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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wäre eigentlich anzunehmen, die Bundespolizei hätte nach jenem Tag der Erkenntnis postwendend die nötigen Massnahmen zur Beschattung von Mur ergriffen.

      Dem war nicht so. Wiederum verstrichen Wochen. Aus den Akten der Bundesanwaltschaft geht nicht hervor, woran die eigentümliche Passivität der Beamten lag. Hatte «die Zentrale» noch immer nicht grünes Licht für nachhaltige Ermittlungen gegeben? Schien es der Bupo, seit jeher darauf fixiert, alle Gefahren im linken Spektrum zu orten, schlicht zu abenteuerlich, das Undenkbare zu denken – dass nämlich ausgerechnet ein Brigadier, und erst noch ein Ausbund bekennenden und lauten Patriotismus’, in die Fänge der Sowjets geraten war? Fürchtete sie vielleicht, selbst in eine Falle gelockt zu werden? Oder wollte sie aus Rücksicht auf ein aktuelles und überaus sensibles Thema der Politik unter allen Umständen das Risiko ausschalten, dass zur Unzeit etwas durchsickerte?

      Für den 1. August 1975 war in Helsinki die feierliche Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte anberaumt, die, wie ihre Verfechter hofften, der Entspannung zwischen West und Ost neue Impulse verleihen würde. Seitens der Schweiz sollte der sozialdemokratische Bundesrat und Aussenminister Pierre Graber die Akte unterzeichnen. Die Unterschrift unter ein Dokument aber, das insbesondere den Sowjets ein Anliegen war, hätten breite Volkskreise absolut nicht verstanden, wäre kurz zuvor bekannt geworden, dass der ideologische Feind einen Schweizer Brigadier auf Abwege geführt hatte. Auch ohne Kenntnis dessen, was sich in jenen Tagen zusammenbraute, herrschte in rechtsbürgerlichen Kreisen tiefes Misstrauen gegen alles, was mit dem Kürzel KSZE zu tun hatte.33

       Mur mutiert zu Morat

      Der Sommer verstrich, die Politik ruhte, die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte ging ohne Zwischenfall, aber begleitet von kritischen Tönen der bürgerlichen Presse, über die Bühne.

      Am 15. August 1975 berief Bundesanwalt Rudolf Gerber eine Konferenz seiner engsten Mitarbeiter ein, um das Dispositiv für Jeanmaires Überwachung zu erstellen. Die Devise, nach der zu handeln war, lautete: maximale Effizienz, maximale Diskretion. Zwei Vorgaben also, die in einem schwierigen Verhältnis zueinander standen. Bis zur Stunde verfügte die Abwehr lediglich über die paar Hinweise der XX-Verbindung, denen die Bupo zwar voll vertraute, die aber vage, teils auch diffus waren und darüber hinaus Handlungen betrafen, die grösstenteils lange zurück lagen. Auf dieser Basis war natürlich nicht an eine sofortige Festnahme oder direkte Konfrontation des Verdächtigen zu denken. Jetzt ging es darum, den Verdacht zu erhärten, seine Vita auszuleuchten und Beweismittel zu sammeln. Im Grunde musste die Abwehr geradezu hoffen, der angehende Pensionär sei noch immer deliktisch tätig, da es andernfalls beinahe unmöglich sein würde, ihm das nachzuweisen, was er laut XX angestellt hatte.

      Für die jetzt anbrechende Phase ersetzte die Bundespolizei die Phantombezeichnung Mur durch den Codenamen Morat.

      In den folgenden Tagen unterzeichnete der Bundesanwalt eine Reihe von Anträgen zur Überwachung des Telefonverkehrs, die ein Funktionär dem zuständigen Dr. H. beim Rechtsdienst der Generaldirektion PTT persönlich zu übergeben hatte. Sie betrafen Jeanmaires Anschlüsse in seinem Büro, zu Hause in Lausanne und in seiner Absteige in Bern. Dazu kamen etwas später die Anschlüsse zweier Telefonkabinen in Lausanne, die er an Wochenenden regelmässig benutzte, sowie jene seiner Freundin Verena Ogg und im Büro an der Thunstrasse, das ihm nach seiner Pensionierung für die Arbeit an der Zivilschutzstudie zugewiesen worden war. Gleichzeitig mit der Telefon- wurde auch die Postüberwachung angeordnet.

      Militärattaché Wladimir A. Pronine, der in der Berner Sowjetbotschaft das Militärbüro leitete, war schon zuvor ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten. Oberst Pronine, der englisch, spanisch und französisch sprach, hatte seine Funktion in der Schweiz erst am 24. Januar jenes Jahres aufgenommen. Zwei Wochen später lieferte die XX-Verbindung der Abwehr einen Abriss von Pronines Karriere, der mit der Bemerkung endete: «Auf Grund seiner Stellung wird er als GRU-Funktionär eingestuft.» Am 19. Februar – Monate bevor Mur identifiziert worden war – eröffnete die Bundesanwaltschaft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf Widerhandlungen gegen Artikel 272 StGB und ersuchte die PTT, auch seinen privaten Telefonanschluss zu überwachen.1 Die Telefone von Pronines Adjunkt Wladimir Davidov, der bereits seit 1970 in der Schweiz weilte und sich als Kontaktmann Jeanmaires herausstellen sollte, wurden schon seit längerem abgehört.

      Als weitere Massnahme ordnete der Bundesanwalt an, Jeanmaire und die Mitglieder des sowjetischen Militärbüros zu observieren. Es ging darum, «die Nahtstelle zwischen Agent und Führung zu ermitteln. Es muss der Nachweis der ND-Tätigkeit erbracht werden können (Nahtstelle als schwächster Punkt).»2

      Alle diese Vorkehrungen markierten den Beginn einer Phase intensiver Beschattung des Brigadiers und seiner wahren oder vermeintlichen sowjetischen Kontaktleute. Die Arbeit, die die Berner, die Waadtländer und die Bundespolizisten leisteten, fand ihren Niederschlag in Hunderten von Seiten amtlichen Papiers, auf denen sie alles, aber auch wirklich alles notierten, was sie sahen, hörten, rochen und fühlten. Das Resultat ist ein polizeiliches Prosawerk, von dessen Lektüre eine eigentümliche Faszination ausgeht. Nicht, weil das Schrifttum sprachliche Genüsse böte – das wird kaum der Zweck polizeilicher Rapporte sein können. Auch nicht, weil die Alltagswelt des alternden, aber noch immer vitalen Beschattungsobjekts besonders reizvoll gewesen wäre. Faszinierend ist die Lektüre vielmehr deshalb, weil sie eine Welt offen legt, die dem Publikum üblicherweise verschlossen bleibt. Eine Welt, in der Augen anders sehen, Chauffeure anders fahren, Zeit eine andere Rolle spielt, Gefühle anders interpretiert und Begriffe oder einzelne Wörter verwendet werden, die den polizeilich nicht geschulten Beobachter amüsieren und seinen Sprachschatz jedenfalls erweitern.

       «Chefiturm, tout le monde descend!»

      Morat war ein eifriger Stadtwanderer. Die Rapporte schildern, wie er durch Berns Gassen und Gässchen flanierte, wo er Spinat, Fleisch und Früchte einkaufte (die Früchte, vorwiegend Trauben, immer am gleichen Früchtestand), wo er einkehrte (vorwiegend in der «Schmiedstube», im «Schweizergarten», manchmal im «Della Casa»), wie sich seine Laune verschlechterte, wenn die Bedienung wieder einmal zu wünschen übrig liess. Beginn und Ende der Mahlzeiten halten die Rapporte ebenso präzis fest wie das, was er mit sich trug, nämlich eine Mappe mit Zeitungen oder nur Zeitungen, wem er begegnete, ob er die Person lediglich grüsste oder ein paar Worte mit ihr wechselte, wie er sich bewegte (schnell oder langsam), ob er sich umschaute, wann er das Büro betrat oder Feierabend machte und sich den Genüssen des Aperitifs zuwandte:

      Um 16.27 verlässt er das Büro und spaziert über die Kirchenfeldbrücke, den Kasinoplatz und Theaterplatz und durch die Marktgasse bis zum Käfigturm. Dort kauft sich Morat beim Marronibrater heisse Marroni. Marroni kauend geht er weiter durch die Neuengasse–Genfergasse nach dem Hotel Krebs, wo er um 16.50 hineingeht […].3

      Der Umstand, dass Morat zwei Wohnsitze hatte und daher häufig auf Achse war, erschwerte in gewissem Sinn seine Überwachung. Verliess er die Bundesstadt im Auto und zeichnete sich ab, dass die Fahrt Richtung Lausanne ging, mussten die Berner Polizisten unterwegs ihre Waadtländer Kollegen informieren, wo diese ihn «übernehmen» sollten. Solche Absprachen hatten insofern ihre Tücken, als Mitte der 1970er-Jahre das Handy noch nicht erfunden und auch der Polizeifunk, wie es scheint, nicht immer disponibel war, sodass die Observanten stets nach Telefonkabinen oder Restaurants Ausschau halten mussten. Natürlich zeitigten solche Telefonhalte unangenehme Folgen:

      Es ist zu erwähnen, dass Morat eine äusserst schnelle Fahrweise an den Tag legte. In Romont musste unsererseits ein kurzer Halt zwecks Avisierung der Waadtländerkollegen eingeschaltet werden, während dieser Zeit Morat einen Vorsprung herausholen und sich einer Überwachung entziehen konnte.4

      Andere Male wurden die Beamten wieder abgehängt, weil die Ampeln im ungünstigsten Moment auf Rot wechselten, ein anderer Wagen ihnen den Vortritt verweigerte oder das Bierauto der Brasserie Beauregard ein umständliches Manöver durchführte.

      Dem Observierten hingegen schienen die Fahrten zwischen Lausanne und Bern zu behagen: «Ich bin um 9 Uhr aufgebrochen und ganz gemütlich durch das Pay de Vaud gerollt, dabei wählte ich eine sehr


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