Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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Morat während 2000 Stunden observiert.3 Dazu kam der Einsatz der Waadtländer, über deren Aufwand keine Stunden-Buchhaltung vorliegt. Zieht man in Betracht, dass an den Filatüren stets zwei, oft aber deutlich mehr Beamte teilnahmen, so kommt man auf eine Anzahl Mannstunden, die bei 10 000 oder eher darüber liegen dürfte. Hinzuzurechnen ist der Aufwand für die Telefonabhörung und die Abfassung der entsprechenden Protokolle, der, da Jeanmaire von gesprächsfreudiger Natur war, ein imposantes Ausmass annahm.

      «Mit der Überführung Jeanmaires wurde möglichst lange zugewartet, um möglichst viel Material verfügbar zu haben», gaben die Berner Polizeikommandanten vor der Arbeitsgruppe Jeanmaire zu Protokoll. Diese Aussage suggerierte, die in der Tat enormen Anstrengungen hätten schöne Erfolge erzielt. Dem war nicht so. Von «Material», das im Zeitpunkt der Festnahme Jeanmaires eine «Überführung» erlaubt hätte, konnte nicht die Rede sein. Kommissär Pilliard bilanzierte die Überwachungsaktion, die beinahe ein ganzes Jahr gedauert hatte, in internen Berichten mit entwaffnender Nüchternheit:

      Die technischen und physischen Überwachungen gaben der Berner und der Waadtländer Polizei viel zu tun. Doch wir müssen einräumen, dass nichts Konkretes festgestellt werden konnte, das erlaubt hätte, mit Sicherheit zu sagen, «MU R» arbeite noch immer für die Sowjets. Die Postkontrolle brachte kein Resultat. Sie konnte nicht unter normalen Bedingungen durchgeführt werden, da der Briefträger, der die Wohnung des Betreffenden bediente, nicht alle Sicherheitsgarantien erfüllte.

      Auch die Telefonkontrolle brachte uns nichts Entscheidendes ausser jenem Gespräch, das Jeanmaire am 4. November 1975 mit Davidov führte und bei dem er diesen bat, ihn zu Hause abzuholen und zum Silvahof zum Empfang der Italiener zu chauffieren.4

      Dennoch zweifelte Pilliard nicht im Geringsten daran, dass «Mur» und «Mary» für die Sowjets arbeiteten. Er fühlte sich in seiner Überzeugung schon deshalb bestärkt, weil in zwei ähnlich gelagerten, freilich viel weniger bedeutenden Fällen die Informationen, die man aus der Quelle XX schöpfen konnte, sich als richtig erwiesen hatten.

      Es gab einen weiteren Grund, weshalb Pilliard den Bundesanwalt zum Handeln drängte. Bei den Fahndern hatte sich in jüngster Zeit der Eindruck verstärkt, ihr Objekt gleite ihnen mehr und mehr aus den Augen. Die sich abzeichnende Unübersichtlichkeit hatte mit dem «Röstigraben» zu tun. Kommissär Hofer umschrieb die Sachlage in seinem bereits erwähnten Bericht so:

      Trotz des Sonderauftrages des Generalstabschefs für die Zeit nach der Pensionierung hielt sich JM im Sommer 76 immer seltener an seinem Arbeitsplatz in Bern auf, wo er intensiv überwacht werden konnte.

      Die vermehrte Präsenz in Lausanne bewirkte unüberwindliche Überwachungsprobleme. Die Sicherheit der Observationsmassnahmen war in der heimischen Umgebung des Brigadiers nicht mehr gewährleistet. Es bestand zudem die Gefahr, dass die Führung des JM bei vermehrter Präsenz in Lausanne an die GRU-Residentur in Genf hätte übergehen können.

      JM bemühte sich im Sommer 76 um die Erhaltung seiner Informations- und Dokumentationsquellen im EMD, verlor aber gleichzeitig (vermutl. wg. der Haltung des Departementschefs EMD) den Kontakt zu verschiedenen Kollegen in Bern. Sowohl im EMD wie auch im Kt. VD bestand die Gefahr, dass JM durch verändertes Verhalten von Bekannten und evtl. Indiskretionen hätte gewarnt werden können.

      Alle diese Gründe bewogen den Bundesanwalt schliesslich zur Intervention. Dabei war ihm bewusst, dass er sich auf ein riskantes Spiel einliess. Zwar hielt Hofer in seinem Bericht fest, die im Ermittlungsverfahren zusammengetragenen Belastungsfragmente hätten «eine stabile Grundlage für die bevorstehende Einvernahme von JM» ergeben. Damit beschönigte er die Situation. Tatsache war, dass die Polizei praktisch mit leeren Händen dastand. Vor der Arbeitsgruppe Jeanmaire musste später auch der Bundesanwalt einräumen, «rechtsgenügende Beweise» für ein strafbares Verhalten hätten im Zeitpunkt der Festnahme keine vorgelegen.5

      Bis jener Zeitpunkt endlich da war, befleissigte sich die kleine Schar der Eingeweihten absoluter Diskretion. Sie pflegten die formellen Kontakte mit den Sowjets und erfüllten mit staunenswerter Kaltblütigkeit selbst die Pflichten der Courtoisie, die ihnen ihre Ränge auferlegten. Anfang Juli lud der Chef des Militärprotokolls, Oberst Erich Kipfer, verschiedene Militärattachés, darunter den sowjetischen, zusammen mit den Chefs des Generalstabs, der Fliegertruppen und des Geheimdienstes in sein Wochenendhaus am Murtensee ein, wo die Herren in Begleitung ihrer Damen einen ungezwungenen Sommerabend verbrachten.6

      Mitte Juli trafen sich UNA-Beamte auf dem bundeseigenen Landsitz Lohn mit einer Dreierdelegation des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes. Eines der Themen, über die man sich austauschte, war der Zivilschutz in der DDR. Eigentlich war vorgesehen, auch Jeanmaire einzuladen, war er in jenem Zeitpunkt doch der Mann, der dank seiner Studie die Materialien am gründlichsten kannte. Sein Beizug musste den Verantwortlichen dann doch zu riskant erschienen sein, jedenfalls unterblieb das Aufgebot an den Brigadier.7

      Der 9. August 1976

      Den Haftbefehl hatte Bundesanwalt Gerber bereits am 6. August 1976 ausgestellt. Doch erst drei Tage später war es so weit. Jeanmaire schlägt in jenen Passagen seiner Memoiren,8 in denen er aufzeichnete, wie der Schicksalstag begann, geradezu lyrische Töne an: «Es war der 9. August 1976. Ich mag die Morgenstunden, wenn die Luft frisch und fast unverdorben über der Stadt liegt …» Der Brigadier war Frühaufsteher, oft riss ihn sein Tatendrang schon um drei Uhr aus den Federn, spätestens aber um sechs, wie auch an diesem Montag, sodass er sich Zeit nehmen konnte, gemütlich die kleinen Arbeiten des Morgens zu erledigen und seiner «kranken Frau einen sanften Kuss auf die Stirn zu drücken». Danach machte er sich auf den Weg zum Bahnhof, die Morgenluft tief einatmend, den Anblick des ihm ans Herz gewachsenen Parks Mon Repos mit seinen ruhig und gravitätisch im Erdreich stehenden Bäumen geniessend und, wie so oft, über die moderne Volkskrankheit sinnierend, die sich darin manifestiere, «dass man zu spät aufsteht, um dann den ganzen Tag damit zu verbringen, die verschlafene Zeit einzuholen».

      Den Haftbefehl stellte der Bundesanwalt am 6. August 1976 aus. Festgenommen wurde Jeanmaire am Morgen des 9. August 1976, kurz nachdem er seine Wohnung in der Avenue du Tribunal Fédéral verlassen hatte.

      Auf seinem Gang durch das morgendliche Lausanne weilte er in Gedanken schon in Bern, malte sich aus, wie er «bei einem Schwatz mit Oberstleutnant Albert Bachmann, dem pfeifenrauchenden Rotschopf», einen Kaffee trinken und sich danach den Listen und Tabellen seiner Zivilschutzstudie widmen würde. Dergestalt versunken, beachtete er die beiden Männer am Rand seines geliebten Parks zunächst nicht. Dann überstürzten sich die Ereignisse:

      Als ich sie bemerkte, war es zu spät auszuweichen, selbst wenn ich das gewollt hätte. Da ich jedoch für den Nachrichtendienst arbeitete, beunruhigte es mich nicht weiter, als die eine der beiden Gestalten mir den Weg vertrat. Er wies sich als Kommissär der Bundespolizei aus. Sofort schaltete mein Gehirn von Privatmann und Rentner auf Brigadier und Waffenchef. Ich sagte nichts, zog meine Brauen zum berühmten finsteren Bogen zusammen und schaute den Polizisten fragend an. Vage kam er mir bekannt vor, aber ich hätte nicht zu sagen vermocht, woher. «Mein Name ist Louis Pilliard, Kommissär Bundespolizei. Dies ist mein Kollege Lugon, Sicherheitspolizei des Kantons Waadt. Nehmen Sie bitte in diesem Wagen Platz, wir haben Ihnen einige Fragen zu stellen!»

      Die zwei Beamten fuhren mit dem Brigadier zur Mercerie, dem Büro des waadtländischen Untersuchungsrichters, und führten ihn dort in einen kleinen, vergitterten und dazu schlecht gelüfteten Raum. Nachdem man Platz genommen hatte, eröffnete Kommissär Pilliard seinem Gegenüber, um was es ging:

      Erstens: Es bestehen gravierende Lecks in Richtung Osten!

      Zweitens: Sie haben sich mit Russen getroffen …

      Drittens: Sie werden festgenommen auf Befehl von Bundesrat Furgler.

      Viertens: Sie werden das Gefängnis nicht mehr lebendig verlassen.

      Ob sich jene Szene wirklich so abgespielt hat, wie sie Jeanmaire in seinen Memoiren formuliert, lässt sich nachträglich nicht mehr rekonstruieren. Das erste «Abhörungsprotokoll»9 hält, aber


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