Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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Sie werden einvernommen als Folge einer vom Herrn Bundesanwalt eröffneten gerichtspolizeilichen Untersuchung wegen möglichen Verstössen gegen die Artikel 27410 und 30111 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Was antworten Sie darauf?

      JM: Ich nehme Kenntnis davon.

      Frage: Sagen Sie uns, mit welchem Diplomaten oder Funktionär östlicher Länder Sie während den letzten Jahren in offiziellem oder privatem Kontakt standen.

      JM: Ich hatte vor allem Kontakte mit sowjetischen Militärattachés, die versuchten, das Unrecht zu reparieren, das meinen Schwiegereltern widerfuhr, die Russland nach der Revolution verlassen mussten […].

      Jeanmaire schreibt in seinen Memoiren, im ersten Moment habe sein Denken ausgesetzt, und ein Schock sei ihm in die Glieder gefahren. Die beiden Polizisten hatten mit ihrer Taktik genau das bewirkt, was sie erhofft hatten: Jeanmaire war überrumpelt. Und als er sich fürs Erste gefasst hatte, suchte er Zuflucht in der irrigen Meinung, das über ihn hereingebrochene Ungemach sei ein Missverständnis, das er, der befehlsgewohnte Brigadier, rasch würde aus der Welt schaffen können. Die Zeit, sich eine klare Strategie für die anstehende Befragung auszudenken, nahm sich der Festgenommene nicht – oder, wohl eher zutreffend, diese Zeit wurde ihm nicht gewährt. Dafür fiel er, was kaum überrascht, in jenes Grundmuster seines Charakters, das sich wie ein roter Faden durch die unzähligen Qualifikationszeugnisse und Führungsberichte zieht, die sich im Lauf seines Instruktorenlebens angesammelt hatten: in seine Redseligkeit.

      Jeanmaire redete – lang, ausführlich, zahlreiche Details weit zurückliegender Geschehnisse erwähnend, was ihm, der über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, keine Mühe machte. Er redete, diesen Eindruck vermittelt das erste Protokoll, bereitwillig und sich offenbar in der Gewissheit wiegend, bei den beiden Polizisten Verständnis für sein Tun zu wecken. Er erzählte ihnen, wie sich die Kontakte mit Sowjetattaché Denissenko angebahnt hatten, wie er diesen Russen bei sich zu Hause empfing, wie es dazu kam, dass er ihm 1964 den Offiziersetat des Jahres 1961 überliess, die Ordre de bataille des 2. Armeekorps zeigte und der Sowjetoffizier danach ein Couvert hervorzog:

      Vielleicht war es an jenem Tag, als Denissenko mir einen Umschlag mit Geld hinstreckte. Dieser war geöffnet und ich sah, dass sich Hunderter- oder Tausendernoten darin befanden. Ich warf dieses Couvert auf den Tisch und erklärte, dass ich mich nicht kaufen lasse. Meine Frau wohnte dieser Szene bei, und Denissenko nahm den Umschlag wieder an sich. Er wollte mir das Geld unter dem Vorwand anbieten, die Verluste wieder gutzumachen, die meine Schwiegereltern anlässlich der Revolution erlitten hatten.

      Einige Zeit später, teilte Jeanmaire den Polizisten weiter mit, sei bei ihnen anonym ein Schwarzweiss-Fernseher abgeliefert worden:

      Ich konnte mir vorstellen, dass dieses Geschenk von Denissenko kam. Obwohl wir den Apparat störend und kompromittierend fanden, behielt ich ihn bis 1975. Letztes Jahr schenkte ich ihn der Organisation «Jugend und Sport» in Bern.

      Jeanmaire machte im Lauf jenes ersten Vernehmungstags weitere Angaben über seine sowjetischen Kontaktpartner. Um die Mittagszeit suchten die drei ein Restaurant auf. «Es gab ein Glas Wein und die Atmosphäre entspannte sich ein wenig», hält Jeanmaire in seinen Memoiren fest, wogegen das Protokoll vermerkt: «Jeanmaire wollte während der Mittagspause weder essen noch trinken.» Anschliessend fuhr die Troika zur UBS Lausanne. Die beiden Polizisten wünschten Einblick in den Banksafe des Brigadiers. Dort lagen seine vier Sparbüchli, anhand derer er zu beweisen suchte, dass er nie irreguläre Zahlungen erhalten hatte. Zum Vorschein kamen allerdings auch jene andern Geschenke, die Denissenko dem befreundeten Ehepaar gemacht hatte: eine Krawattennadel und ein Paar Manchettenknöpfe aus Gold für ihn, Jean-Louis, ein Collier (mit Anhänger) und eine Armspange, ebenfalls aus Gold, für sie, Marie-Louise.

      Kaum hatte Jeanmaire an jenem Morgen sein Domizil an der Avenue du Tribunal Fédéral verlassen, läutete es an seiner Wohnungstür. Polizei. Die Gendarmen präsentierten Frau Jeanmaire einen Hausdurchsuchungsbefehl und unterzogen auch sie einer ersten Einvernahme. Auf die Frage, ob sie die sowjetischen Diplomaten bei sich zu Hause empfangen habe, erklärte sie kategorisch:

      Hier, in meiner Wohnung oder auch anderswo in Lausanne habe ich nie einen Funktionär der sowjetischen Botschaft getroffen. Diese Zusammenkünfte fanden stets in Bern, in der Botschaft, statt […].

      Ich bin sicher, dass mein Mann nie einen Funktionär der Botschaft in Lausanne eingeladen oder getroffen hat.12

      Sie verneinte ferner, einen Fotoapparat oder Einrichtungen zu besitzen, um Filme zu entwickeln. Sie sei auch nie beauftragt worden, von sowjetischen Diplomaten Post zu erhalten und an Dritte weiterzugeben oder anderweitige Dienste zu leisten. Und im Auftrag ihres Mannes habe sie den Sowjets nie Dokumente übergeben. Die Einvernahme ging um 10.45 Uhr mit folgendem Schlusswort zu Ende:

      Ich habe die ganze Wahrheit gesagt und wünsche nicht, meinen Erklärungen etwas beizufügen.

      In der Mittagspause tauschten die beiden Einvernahme-Teams ihre Erkenntnisse aus. Somit wussten die beiden Beamten, die bei Frau Jeanmaire gewesen waren, was ihr Mann über die häuslichen und ausserhäuslichen Kontakte mit «den Russen» und deren Geschenke ausgesagt hatte. Und ein Blick in die beschlagnahmten Agenden13 von Frau Jeanmaire, die in einer späteren Phase des Verfahrens noch Gegenstand weit verzweigter, geradezu abenteuerlicher Recherchen werden sollten, zeigte rasch, dass ihr apodiktisches Schlusswort die «ganze Wahrheit» betreffend so nicht stimmen konnte.

      Um 14.45 Uhr meldeten sich die Beamten wieder in der Wohnung und konfrontierten Frau Jeanmaire mit Fragen nach Denissenkos Besuchen. Sie antwortete:

      Ich bestätige meine Antwort vom Morgen in dem Sinne, dass ich nie einen sowjetischen Funktionär zu Hause empfangen habe, an der 38, avenue du Tribunal Fédéral.

      Einrede der Beamten: Trotz Ihrer negativen Antwort wissen wir, dass Herr Denichenko14 zwischen 1960 und 1964 mehrere Male in Ihre Wohnung gekommen ist. Ihr Mann war auch anwesend, und Sie haben zu Dritt in Restaurants der Umgebung von Lausanne gegessen. Was sagen Sie dazu?

      Tatsächlich ist diese Person zwei oder dreimal zu uns in unsere Wohnung gekommen und wir sind, wenn ich mich recht erinnere, essen gegangen in Savigny und in Villars-Sainte-Croix […].

      Warum haben Sie unsere Frage erst bejaht, nachdem wir Ihnen genauere Details unterbreitet hatten?

      Seit drei Jahren bin ich halbseitig gelähmt, was häufige Gedächtnisverluste verursacht.

      Danach wollten die Beamten wissen, ob die Attachés ihr und ihrem Mann Geschenke überreicht hätten. Frau Jeanmaire antwortete: «Nein, nie.» Die Polizisten legten ihrerseits dar, was sie wussten, worauf Frau Jeanmaire den Empfang von Geschenken bestätigte. Die Polizisten wurden zunehmend stutzig:

      Sie verneinten, zu Hause Funktionäre der sowjetischen Botschaft empfangen zu haben, Sie reagierten gleich, als wir Sie nach Geschenken fragten, und erst, nachdem wir Ihnen Beweise vorgelegt haben, gaben Sie ihre Handlungen zu. Ihr Verhalten lässt vermuten, dass Sie ihren Mann decken wollen. Wie antworten Sie?

      Ja, das ist richtig.

      Trifft es zu, dass Denissenko Ihrem Mann in Ihrer Wohnung, in Ihrer Gegenwart, eine bedeutende Summe Geld in einem Umschlag geben wollte?

      Ich habe keine Erinnerung daran. Persönlich bekam ich nie Geld und ich erkläre, dass dies auch für meinen Mann zutrifft, in der Wohnung. Trifft es zu, dass Ihr Mann Denissenko und seinem Nachfolger verschiedene Dokumente übergab, dies in Ihrer Gegenwart und sogar auf Ihre Anregung?

      Nein, das ist nicht wahr. Ich weiss auch nicht, ob mein Mann so gehandelt hat und Dokumente übergab.

      Wie erklären Sie den Wert der Geschenke, die Ihnen von diesen beiden Personen gegeben wurden?

      Sie wollten uns eine Freude machen, da ich in Russland geboren wurde.

      Wieder endete die Einvernahme mit der Erklärung Frau Jeanmaires, sie habe nichts beizufügen oder irgendwelche Modifikationen anzubringen.

      Interessant ist, wie unterschiedlich die beiden Eheleute in diesen ersten Verhören reagierten. Wählte der Mann, in zahlreichen


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