Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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Hoffnung schöpfen. Von den ersten Hinweisen auf das Leck hatten sie noch den Hinweis in Erinnerung, die Sowjetagenten hätten in den Wäldern zwischen Lausanne und Bern möglicherweise einen toten Briefkasten eingerichtet. Diesem Versteck glaubten die beiden Wachtmeister der Berner Sikripo, Ba. und Bä., die an jenem kühlen, aber sonnigen Wintermorgen des 9. Januar im Filatüren-Einsatz standen, unmittelbar auf der Spur zu sein.

      Noch als es dunkel war, hatten sie mit der Observierung Morats am Sonnenhofweg begonnen. Wir verzichten hier auf die Wiedergabe des morgendlichen Spiels der Lichtquellen und hängen uns den beiden Wachtmeistern zwei Stunden später an die Fersen.

      08.56 fährt Morat via Thunstrasse–Kirchenfeldstrasse […] Richtung Flamatt und um

      09.15 auf die Autobahn Richtung Freiburg. Die Fahrt geht über Romont–Militärkaserne–Siviriez–Esmonts–Ursy–Rue–Ecublens nach Mézières zur bekannten Metzgerei, wo er um

      10.20 durch die Kollegen aus Lausanne übernommen wird. –

      Anlässlich dieser Überwachung hat sich folgende Begebenheit zugetragen:

      Zwischen Ecublens und Mézières, d. h. 1700 Meter nach der Kapelle in Ecublens und auf der Anhöhe im Wald, ist Morat mit seinem Wagen von der Durchgangsstrasse nach links in den ersten Fahrweg abgebogen und hat nach ca. 50 Metern angehalten. Bei unserm Passieren hatte Morat bereits den Rückwärtsgang eingeschaltet, was anhand der Rückblende sichtbar war. Wir sind zugefahren, haben nach 100 Metern rechts in einen Fahrweg abgebogen und das Auto abseits in den Wald gestellt. Durch den Tannenwald und Kleinholz sind wir nach der Stelle hin, wo sich Morat aufhalten musste, um dessen Tun beobachten zu können. Aus Distanz sahen wir, dass Morat seinen PW inzwischen auf die Durchgangsstrasse manövriert und diesen unmittelbar bei der Einmündung des Fahrweges, Kühler Richtung Mézières, parkiert hatte. Morat selbst befand sich im Waldstück auf unserer Seite. Wegen den einfallenden Sonnenstrahlen konnte nicht gesehen werden, was Morat machte. Jedenfalls begab er sich unvermittelt zu seinem Wagen zurück und fuhr um 10.10 Uhr Richtung Mézières weg. –

      Wir haben die ungefähre Stelle, wo sich Morat aufgehalten hat, kurz besichtigt und uns auf einem Umweg auf die Strasse begeben. Gegenüber der Stelle, wo Morat seinen Wagen parkiert hatte, befindet sich ein Grenzstein der Kantone Freiburg und Waadt mit der Jahrzahl 1957, also ein markanter Punkt. –

      Von Romont aus haben wir Herrn Kom N. von unsern Wahrnehmungen telefonisch Kenntnis gegeben. Herr Kom N. ordnete an, dass die Stelle zu beobachten und allfällige Passanten oder Motorfahrzeuge zu notieren seien. Er, N., werde mit Herrn Kom Pilliard unverzüglich nachkommen. Nach dem Eintreffen der beiden Kommissäre wurden die Örtlichkeiten gründlich nach einem eventuellen TB [toten Briefkasten] abgesucht. Es konnte festgestellt werden, dass jemand 15 Meter im Waldesinnern und zwar auf der Höhe des erwähnten Grenzsteines, seine Notdurft verrichtet hat. Der Kot, eher dünnflüssig, schien noch frisch. In der Nähe lagen Teile von Papierservietten. Etwas entfernter lag eine Schokoladenhülle, Marke Frigor, mit dem auf der Rückseite aufgeklebten Preis von Fr.1.80.

      Herr Kom N. ersuchte uns, abzuklären, wo die Schokolade allenfalls gekauft wurde. Bekanntlich hat Morat bei der Drogerie Schütz am Ostring, beim Kiosk bei der Tramhaltestelle Sonnenhof und Tea Room Tschirren, Kramgasse 73, Einkäufe getätigt. Die getroffenen Erhebungen ergaben, dass die Schokolade beim Kiosk gekauft worden sein könnte, da die dort vorhandenen Frigor-Schokoladen den auf der Rückseite angebrachten Kleber mit dem aufgedruckten Preis aufweisen. Bei der Drogerie Schütz ist keine Schokolade erhältlich und diejenigen vom Tea Room Tschirren weisen keine Kleber auf. –

      Es ist somit mit Sicherheit anzunehmen, dass Morat im erwähnten Gebiet seine Notdurft verrichtet hat.»15

      Da standen nun die vier Männer im Winterwald und mussten sich damit abfinden, dass ihr kleiner Hoffnungsschimmer, kaum aufgeleuchtet, schon wieder verblasst war.

      Wenig später fand wieder ein Cocktail statt, diesmal auf der jugoslawischen Botschaft. Franzosen, Deutsche, Bulgaren, Ungaren, Polen, Rumänen, Norweger, Schweden, Thailänder und Russen fuhren mit ihren Wagen auf, auch die Schweizer stellten eine Delegation, die sich sehen lassen durfte: zwei Korpskommandanten, ein Divisionär, der Chef des Auslandnachrichtendienstes, Spitzenbeamte des EMD – und Morat, der jetzt bereits pensioniert war. Die Polizei setzte nicht weniger als elf Kommissäre, Inspektoren und Wachtmeister in Trab. Ihr Aufgebot mochte deshalb so gross gewesen sein, weil die Ermittler hofften, den am 4. November 1975 gewonnenen Verdacht unüblicher Kontakte von Morat zu erhärten. Aber nichts dergleichen. Der Rapport hält fest, der Observierte habe sich in keiner Weise verdächtig verhalten und sei gemächlichen Schrittes nach Hause gebummelt.16

      Ähnlich enttäuschend wie dieser Grosseinsatz verlief, ganz abgesehen von den täglichen Routineüberwachungen, die Aktion Kehrichtsack.

      Aus abgehörten Telefongesprächen war der Bupo zur Kenntnis gelangt, dass Morat nach seiner Pensionierung grössere Mengen militärischer Unterlagen von seinem vormaligen Chefbüro der Luftschutztruppen an der Wylerstrasse 52 in seine Absteige am Sonnenhofweg verbracht und nach Neujahr 1976 begonnen hatte, diese Unterlagen neu zu ordnen und jene Schriften, die ihm uninteresssant schienen, zwecks Abfuhr in Plastiksäcke zu stopfen. Also richtete die Bupo nun ihr «besonderes Augenmerk» auf die herausgestellten Abfallbehälter, wenn die städtische Kehrichtabfuhr den Sonnenhofweg bediente.

      Die Arbeit an der Abfallfront oblag indes wiederum den Berner Polizisten. Sie fischten Jeanmaires Säcke heraus, überprüften eingehend den Inhalt und gaben sich alle Mühe, zerrissene Aktenstücke «im Puzzle-Verfahren wieder zusammenzusetzen».17 Die Ausbeute war gleich null.

      Auch in den folgenden Wochen und Monaten ereignete sich nichts, das als Aha-Erlebnis hätte gewertet werden können. Morat kaufte Trauben, verköstigte sich in der Schmiedstube oder im Schützengarten, machte seine Abstecher zum Metzger in Mézières, arbeitete an der Zivilschutzstudie – courant normal also. Am 13. Februar 1976 wussten die Waadtländer Kollegen zu berichten:

      Man erfährt, dass JM in seinem Hotelzimmer18 gefallen sein und ev. ein oder zwei Rippen gebrochen haben soll. Als er um 13.43 mit dem Zug von Bern ankommt, wird festgestellt, dass er sich effektiv mit Mühe bewegt.19

      Vermutlich beugten sich die Fahnder in Anbetracht dieses unspektakulären Lebenswandels nochmals über den ursprünglichen Hinweis der Verbindung XX und versuchten, aus jenem ziemlich rätselhaften Text weitere Ansatzpunkte für ihre Ermittlungen herauszulesen. Darin war angedeutet worden, die Eheleute Mur und Mary, die mit Denissenko in Kontakt standen, seien «im Juni 1964 bei einem Treffen in St. Gallen einem andern GRU-Führungsoffizier übergeben» worden. Nur so ist zu erklären, dass die Bundesanwaltschaft im Frühsommer 1976 ihre Netze auch in die Ostschweiz auswarf. Am 16. Juni ersuchte sie den Nachrichtendienst des Polizeikommandos St. Gallen, in der Hotelkontrolle der Jahre 1964/65 nach den Namen Denissenko, Issaev, Zapenko und Khomenko zu forschen. «Die Nachschlagung liegt im Interesse der Abwehr nachrichtendienstlicher Umtriebe», begründete sie ihr Gesuch, in dem aus Gründen der Diskretion von Jeanmaire nicht die Rede war.

      Am 7. Juli meldete die St. Galler Kantonspolizei zurück, die Kontrollen seien negativ verlaufen: «Zu erwähnen ist, dass die grössere Anzahl der Polizeistationen keine Nachschau mehr halten konnte, da die Unterlagen fehlten.» Man sei, belehrte die Kantonspolizei den Bundesanwalt, nur verpflichtet, «die Hotelkontrolle während fünf Jahren aufzubewahren». Dennoch fand sie heraus, dass Denissenko am 24. Juni 1961 im Gasthaus Traube in Sevelen und am 4. Mai 1963 im Hotel Hirschen in Wattwil abgestiegen ist. Doch diese Erkenntnis half den Fahndern auch nicht weiter.

      Als unergiebig erwies sich auch die Abhörung der Telefone. Was die Protokollanten vernahmen, waren Alltäglichkeiten eines Mannes, der seiner Frau meldete, wann er heimzukommen gedenke, ob er etwas mitbringe oder ob man auswärts essen gehe, welche Namen sie auf die Stimmzettel zu schreiben habe und dergleichen. Telefonierte er im Büro neben Geheimdienstler Bachmann, regte er sich regelmässig über die miserable Qualität seines Apparats auf:

      Wr.: Ja

      M.: Morat, hören Sie mich gut?

      Wr. Ja normal, ja.

      M.: Normal?

      Wr.


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