Zwingli. Franz Rueb

Zwingli - Franz Rueb


Скачать книгу
Jahre besass er als intellektueller Kopf die erstaunliche Zahl von weit über 100 Büchern. Und in seinem Nachlass umfasste seine Bibliothek 210 theologische und etwa 100 philosophische Werke.

      Eines ist wohl sicher: Zwingli war stets bestrebt, sein Wissen weiterzugeben. Auf seine Initiative hin stimmte die Landsgemeinde im Jahr 1510 der Gründung einer Lateinschule zu. Man stelle sich das vor: im Jahre 1510 eine Lateinschule in Glarus! Zwingli wurde Lateinlehrer. So kam es, dass der spätere bedeutende Chronist der Eidgenossenschaft, Aegidius Tschudi, Zwinglis Schüler wurde. Wir wissen ungefähr, was Zwingli in seinen zehn Glarner Jahren gelesen und was er etwa mit seinen Schülern durchgenommen hat, es reicht von Titus Livius zu Plutarch, von Sueton zu Herodian, von Plinius zu Caesar. Und wir ahnen, dass Zwingli ein Prediger war, der aus den römischen Klassikern schöpfte für seine Predigten, obwohl wir sonst über diese Predigten herzlich wenig wissen.

      Der Toggenburger war noch nicht 20-jährig, als er sich schon didaktisch und pädagogisch betätigt hatte. Später sind mehrere Briefe von Schülern an Zwingli oder über Zwingli an uns gekommen. Es sind samt und sonders bewundernde, begeisterte und dankbare Zeugnisse von späteren Studenten. Zwingli war zwischen 22 und 32 Jahre alt, da wird ihm «väterliches Wohlwollen» bescheinigt, «weise und gütig» sei er ihnen «mit Rat und Tat zur Seite gestanden», habe auch «bei ihren Eltern als verständnisvoller Mittelsmann ihre Anliegen vertreten». Aus dem Jahr 1515 finden wir am Rand eines Erasmus-Buches folgende schöne Handnotiz von Zwingli: «Lass die Bursten, das heftige Dreinfahren! Damit bringt man die Kinder bloss zum Heulen». Immer wieder kommt uns das Bild des gütigen Lehrmeisters entgegen in den ungezählten Briefen von späteren Studenten. Was für Liebesbezeugungen! «Nie habe ich etwas so hoch geschätzt, als die Freundschaft eines solch gelehrten und gütigen Mannes geniessen zu dürfen.» Oder: «Du bist der teuerste der Lehrer und der Liebenswerteste unter den Teuersten.» Oder: «Mein ganzes Glück und all mein Wissen verdanke ich dir, und mein Schicksal hängt völlig von dir ab.» Und im Kreise seiner humanistischen Freunde galt er als führende Gestalt unter den Schweizer Humanisten, seine Brieffreunde sprachen ihn an als Humanisten, als Philosophen oder aber als Philosophen und Theologen.

      Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde in der eidgenössischen Politik darüber gestritten, ob die Zusammenarbeit des Papstes mit dem Kaiser oder mit den Franzosen gesucht werden sollte. In wessen Dienste sollen die Glarner Söldner sich stellen? Zwingli votierte für den Papst, worauf sich dieser mit einer stattlichen Pension von 50 Gulden bedankte.

      Zwingli hatte sehr viel zu tun mit Witwen und Waisen und Eltern und Geschwistern. Da kam von 1600 Teilnehmern an italienischen Feldzügen ein Viertel gar nicht mehr nach Hause, und etliche kamen als Krüppel zurück, von seelischer Verwahrlosung gar nicht zu reden.

      Doch im Oktober 1515, unmittelbar nach der Schlacht von Marignano, war es aus mit der schweizerischen Grossmachtpolitik, vor allem durch die vernichtende Niederlage gegen die Franzosen. Zwingli votierte gegen den französischen Friedensschluss und für den Papst in Rom. Die Stimmung in der Eidgenossenschaft und auch in Glarus schlug zugunsten der Franzosen um. Zwinglis politische Haltung wurde unhaltbar. Er hatte zwar grossen Rückhalt in der Bevölkerung, war jedoch politisch isoliert.

      Er hatte in seiner Glarner Zeit die einheimischen Söldner zweimal als Feldprediger nach Oberitalien begleitet, wo der deutsche Kaiser, der französische König und der Papst mit militärischen Mitteln um Einfluss und Macht rangen. Mal standen Schweizer auf der einen, dann auf der anderen und manchmal gar auf beiden Seiten einander feindlich gegenüber.

      Das wurde für Zwingli zu seiner paradigmatischen Erfahrung und führte zu seiner ersten grundsätzlichen Einmischung in die Politik. Gerade diese Erfahrung formte den jungen Priester, Prediger und Lehrer zum eidgenössischen Patrioten.

      Ja, die kriegerischen Erfolge der Schweizer waren ihre sicht- und spürbare Stärke, aber gleichzeitig auch ihre Schwäche, da halb Europa ihre Söldner begehrte. Man gewann zwar das Tessin und das Veltlin. In den südlichen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs wurden die Schweizer für ihre Freiheit beneidet. Dort hatten die «Freiheitskriege» enorme Wirkung. Andererseits hatte der Schweizer den Ruf des unbezähmbaren, anarchischen Kriegers. Die Wehrpflicht wurde zum Vorbild, doch die Reisläuferei war vornehmlich von Abenteuerlust und Habgier geprägt. Vor allem führten die zahlreichen Soldbündnisse und Soldverträge, die den Schweizer Räten fette Geldzuflüsse bescherten, schliesslich zur faktischen Abhängigkeit von ausländischen Mächten, vor allem vom französischen König und vom Papst. Die Eidgenossenschaft war weit offen für Korruption. Die Tagsatzung erliess 1503 ein Verbot für Einzelpersonen, fremdes Geld wie auch fremde Kriegsdienste anzunehmen. Sie versuchte so, das ausufernde Pensionen- und Solddienstwesen unter obrigkeitliche Kontrolle zu bringen. Durchgesetzt hat sich der Versuch nicht. Erst die Zwinglische Reformation hat für Zürich und die reformierten Stände die dringlichen Massnahmen durchgesetzt.

      Für diese Entwicklung haben wir ein Zeugnis von ungeahnter Strahlkraft aus dem Jahr 1510, eine starke poetische Leistung: «Uolrich Zwingli, Priesters fabelisch Gedicht von eim Ochsen und etlichen Tieren, ietz louffender Dinge begrifflich» (was heissen soll, sich mit gegenwärtigen Vorkommnissen befassend). Also eine hochaktuelle Dichtung zu grundsätzlichen Fragen der Zeit und der Eidgenossenschaft. Natürlich praktizierte der junge Geistliche hier eine Fähigkeit, die er in der Ausbildung sowohl in Wien als auch in Bern bei Lupulus gelernt hatte.

      DER PATRIOT

      Das Fabelgedicht von 184 Zeilen in Deutsch kursierte auch in lateinischer Fassung, in 99 Zeilen. Der Autor schickte das Gedicht seinem Freund Glarean nach Köln zur Begutachtung. Der erwiderte mit vielen Komplimenten über die «Eleganz deines feinen Lateins» und fügte hinzu: «Auch andere gelehrte Männer haben deine Schrift zu sehen bekommen und ihr mit mir Beifall gezollt.» Es ist zu vermuten, dass Zwingli an einen Druck des Gedichtes dachte, denn er wollte vor allem sein Volk vor der lauernden Gefahr warnen mit seinem Kassandraruf. Der Autor schien sich dann vor einer Veröffentlichung zu scheuen, er wurde vorsichtig, denn die Tendenz des Werkes war klar, ja sie war in einigen Passagen scharf. Vermutlich haben ihn einige Bekannte gewarnt, als Pfarrer in Glarus mit einem solchen Pamphlet an die Öffentlichkeit zu gehen, es könnte Missfallen und Ablehnung auslösen.

      Er beschränkte sich also darauf, seine Fabel ausschliesslich in geschlossenen Kreisen vorzulesen und sonst in Abschriften unter Freunden zirkulieren zu lassen. Damit aber verzichtete er auf eine breite Wirkung, er nahm dem Kassandraruf gleich selbst die ganze Kraft und Wucht und Schärfe. Sein Thema war: Die Eidgenossenschaft gehört den Eidgenossen. Jene Herren, die das Land in Kriege anderer Länder hineinziehen, die junge Männer gegen fette Pensionen an fremde Mächte verkaufen, die schaden dem Vaterland. Darum Hände weg vom Blutgeld der Pensionen! Die Reisläuferei junger Schweizer, vor allem Innerschweizer, trieb dem Höhepunkt entgegen. Die Schweizer Krieger galten seit einigen Jahrzehnten als unbesiegbar, sie wurden vom Papst, vom französischen König und vom deutschen Kaiser schmeichelnd umworben. Im Jahr 1510 machte der Papst mit der eidgenössischen Tagsatzung sogar eine Art Freundschaftspakt.

      Im August 1510 zogen 6000 junge Schweizer über den Gotthard in die Lombardei, dabei waren auch 458 Glarner, sie alle waren aufgebrochen, um dem Pontifex zu Hilfe zu eilen. Doch kaum waren sie südlich der Alpen, brachten sie in Erfahrung, dass es nicht um den Schutz des Heiligen Vaters ging, sondern darum, die französischen Truppen aus Norditalien zu vertreiben. Also ein äusserst schwieriger Krieg. Denn die Schweizer Herrenklasse kassierte von den Franzosen in allen Landesteilen grosszügige Pensionen, die französischen Gulden flossen reichlich in die Alpentäler zu den geldgierigen Herren. Das war ein widersprüchliches und schmerzhaftes Kriegstreiben. Weder mit dem Papst noch mit dem französischen König durfte man es sich verderben! Die Schweizer waren in der Klemme. Zogen sie sich zurück, war das ein Vertragsbruch gegenüber dem Papst, befolgten sie den Wunsch des Heiligen Vaters, verdarben sie es sich mit ihren französischen Geldgebern.

      Zwingli befasste sich mit dem Hauptübel, der verbreiteten Korruption. Durch sie waren die Schweizer Landesherren auf Gedeih und Verderb an die Franzosen gebunden. In seiner Fabel ist der Löwe der Kaiser, mit dem Leoparden meint er Frankreich, das Füchslein ist Venedig und der prächtige Muni steht für die kraftstrotzende Schweiz. Da gibt es aber noch die schweizerischen Anhänger der Franzosenpartei,


Скачать книгу