Zwingli. Franz Rueb
neue Erfindung zur vollen Wirkung brachten.
In der Welt der Gelehrten dominierte der Humanismus. Der grösste damalige deutsche Theologe – Martin Luther – war vom humanistischen Gedankengut aber kaum beeinflusst. Zwar führte Luther mit Erasmus von Rotterdam ein Streitgespräch in schriftlicher Form über den freien Willen. Aber er hatte mit der Haltung des Erasmus wenig gemein.
Die Humanisten getrauten sich, scheinbar unverrückbare Wahrheiten infrage zu stellen. Konrad Celtes fragte provokant: «Lebt die Seele nach dem Tod weiter?» Und: «Gibt es wirklich einen Gott?» Eoban Hesse, ebenfalls ein Humanist, schrieb Liebesbriefe von Magdalena an Jesus. Mutianus Rufus gab seinen Schülern zu bedenken, «die Satzungen der Philosophen höher als die der Priester zu schätzen». Seelenmessen hielt er für wertlos, das Fasten für ausgesprochen unangenehm, die Ohrenbeichte für deprimierend. Die anständigen Griechen und Römer seien Christen gewesen, ohne es zu wissen.
Wohl der sanfteste Gelehrte der Zeit war Johannes Reuchlin. Er war der grosse Hebräist der humanistischen Epoche, 1491 wurde er Professor der hebräischen Sprache an der Universität Heidelberg. Und ausgerechnet diesem Mann wurde sehr übel mitgespielt. Aber er wurde, ohne es zu wollen, zum Helden der deutschen Renaissance und des Humanismus. 1508 veröffentlichte der ehemalige Jude Johannes Pfefferkorn, inzwischen zum Katholizismus konvertiert, den Judenspiegel, der die Juden aufforderte, Christen zu werden. Pfefferkorn verlangte die Unterdrückung aller hebräischen Schriften. Das Verbot und die Verbrennung der hebräischen Bücher wurden allgemein gutgeheissen. Reuchlin war allein auf weiter Flur. Er nannte Pfefferkorn einen Esel ohne Verständnis für diese Literatur.
Pfefferkorn gab nun einen Handspiegel mit der Behauptung heraus, Reuchlin sei von den Juden gekauft worden. Papst Leo X. liess mehrere Gutachten über diesen Sachverhalt erstellen. Inzwischen wurde von Pfefferkorn bei der Inquisition ein Verfahren eingeleitet. Das bischöfliche Gericht in Speyer plädierte jedoch unerwartet für Reuchlin auf Freispruch. Andererseits liessen mehrere Universitäten Reuchlinsche Schriften verbrennen. Die ganze Prominenz des Humanismus setzte sich für den Gelehrten ein: Erasmus, Pirckheimer, Peutinger, Oekolampad, Hutten, Mutianus, Eoban Hesse, sogar Luther und Melanchthon. Ganze 53 Städte veröffentlichten proreuchlinsche Erklärungen.
1515, im Jahr der Schlacht von Marignano, gaben drei Humanisten ein sensationelles Buch heraus: Die Dunkelmännerbriefe. Sie gingen in die Literaturgeschichte der Satire ein, ein brillantes Briefwerk. Die Gelehrten Europas lachten sich fast tot, als sie diese fingierten Briefe lasen. Das Buch war eine Art Bestseller. Briefe, die Eoban Hesse, Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten an die reaktionären Theologen in Köln geschrieben haben, in denen die Argumentation zum Schreien war, in einem leicht verblödeten Latein, in geschraubter Scholastik, in dämlichem Stil, inhaltlich die Hauptthemen der Reformation betreffend: Reliquien, der Papst, der Ablasshandel. Nun verbot Leo X. dieses Buch, verurteilte Reuchlin, 65-jährig, zum Tragen der gesamten Kosten. Er verschwand aus der Öffentlichkeit.
Es gab noch eine weitere sehr wichtige Veränderung: die Rolle der Ritter in der Gesellschaft. In der neuen Welt war kein Platz mehr für sie, diese Schicht wurde aus der Gesellschaft herausgespült, und zwar sang- und klanglos. Der grosse und mächtige Ritter Franz von Sickingen und der jüngere Ulrich von Hutten waren eigentlich lebendige Anachronismen. Die Ritterschaft war untergegangen, aufgrund von wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Der Boden hatte aufgehört, der entscheidende Besitz zu sein. An seine Stelle trat der bewegliche Besitz: das Geld.
PFARREI IN GLARUS
In diesem europäischen Umfeld also bewegte sich der junge Zwingli. Er war noch keine 22 Jahre alt, da bewarb sich die Gemeinde Glarus, deren Pfarrer gestorben war, um seine Dienste. Man kann annehmen, dass die Empfehlung von Weesen ausgegangen war, dass Onkel Bartholomäus und der frühere Basler Lehrer Gregor Bünzli den jungen Theologen vorgeschlagen hatten. Zwingli hielt in Rapperswil seine Probepredigt, die zur Zufriedenheit ausfiel, er wanderte – oder ritt – im Sommer 1506 nach Konstanz und liess sich dort vom Bischof zum Priester weihen. So kam der Toggenburger also zu seiner ersten Pfarrstelle. Und da sollte er denn zehn Jahre bleiben. Er musste bei den Glarnern Geld aufnehmen, um die Pfründen des üblen Schmarotzers und Römergünstlings Heinrich Göldli abzugelten. Die Summe war so horrend, dass er die ganzen zehn Glarner Jahre brauchte, um die Schuld abzutragen. Er schrieb an Balthasar Stapfer in Schwyz, ohne Datum, doch es muss sich um die Zeit handeln, als er von Glarus nach Einsiedeln wechselte: «Ich habe so friedlich und freundlich bei meinen Herren in Glarus geweilt, dass ich mit ihnen nie einen Streit hatte, und ich stand drum bei meinem Wegzug in solcher Gunst bei ihnen, dass sie mir die Pfrund noch zwei Jahre lang weiter überliessen, indem sie hofften, ich werde wieder zu ihnen zurückkehren, was ich auch gern getan hätte, wenn ich dann nicht nach Zürich gekommen wäre; und als ich dann die Stelle aufgab, haben sie mir die 20 Gulden geschenkt, die ich wegen der Pfrund noch schuldig war, sie hatte mich nämlich viel über 100 Gulden gekostet. In Einsiedeln bin ich noch heute dem Herrn Verwalter und der Bevölkerung lieb und wert, und das alles beweist doch, dass ich nicht ein hässiger Mensch bin.»
Der Pfründenreiter aus Zürich machte dem jungen Toggenburger das Leben schwer, denn der liess sich von Zwingli die Stelle für viel Geld abkaufen. Er war zwar von Rom, aber weder von der Gemeinde und noch vom Bischof dafür bestellt. Zwingli zahlte die ganzen zehn Jahre an diesen Heinrich Göldli seinen Obolus. Auch das gehörte zum schmerzhaften Anschauungsunterricht über die Kirchenverhältnisse unseres jungen Geistlichen.
Das gab ihm aber auch Einsicht in die kommerzialisierten Strukturen der Organisation sämtlicher Kirchenämter. Der junge Zwingli hat am eigenen Leib erfahren, wie ein Günstling der Kurie die gesamte Kirchenorganisation ausser Kraft setzen konnte. Die Glarner wollten ihn, der zuständige Bischof hatte ihn geweiht, doch Rom und die Kurie kümmerten sich nicht einen Deut darum. Die Verkündigung von Gottes Wort war ein Geschäft.
Die Glarner erwiesen sich allerdings als grosszügig, nicht ganz so entgegenkommend waren sie mit dem Pfarrhaus, denn ihnen waren die Mängel des Hauses wohlbekannt. Doch als Zwingli 1516 seine Entlassung beantragte, boten sie ihm an, ein neues Pfarrhaus zu bauen, damit er bleibe. Der junge Seelsorger hatte zeitweise drei bis vier Kapläne, die ihn entlasteten. Die beiden Kirchen St. Fridolin und St. Hilarien wurden von ihm abwechslungsweise mit Predigten versorgt. Zwingli war darin begabt, eine Volksnähe zu praktizieren, obwohl er zeit seines Lebens ein Studiosus und ein intellektuell vielseitig interessierter Gelehrter war, dazu künstlerisch begabt in der Musikausübung auf verschiedenen Instrumenten.
Die Glarner Pfarrei umfasste mehrere Ortschaften, neben Glarus waren das Riedern, Netstal, Ennenda und Mitlödi. Der Hauptort Glarus umfasste rund 1300 Bewohner. Wir wissen sehr wenig über Zwinglis Tätigkeit. Es ist bei ihm kaum Kritik an der Kirche erkennbar. Noch immer las er die Messe und erteilte die Absolution. Von grösster Bedeutung ist aber die Tatsache, dass der junge Zwingli an den Italien-Feldzügen der Glarner für den Papst gegen die Franzosen in der Lombardei teilnahm.
Im Laufe der Zeit lernte er wohl seine Kirchenmitglieder kennen. Er übernahm geistliche Patenschaften für mehrere Kinder. In den zehn Jahren, die er in Glarus verbracht hat, diesem schmalen, voralpinen Tal, das durch die Produktion von Ziger von sich reden machte, bildete sich der junge Theologe intensiv weiter. Mit grossem Eifer studierte er die antiken Klassiker sowie die Kirchenväter. Da begegnete er zum Beispiel dem grossen Römer Seneca, dem Lehrer von Nero, einem reichen Mann und genialen Schreiber. Er las diese wunderlichen Sätze in der Schrift Die Kürze des Lebens von Seneca: «Jeder überstürzt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach dem Kommenden. Der hingegen, der jeden Augenblick zu seinem Nutzen verwendet, der jeden Tag so einteilt, als wäre er sein Leben, sehnt sich nicht nach dem folgenden Tag und fürchtet sich nicht davor. Alles ist bekannt, alles bis zur Sättigung genossen. Über das andere mag das Glück nach Belieben verfügen. Das Leben ist schon in Sicherheit. Diesem Menschen kann man noch etwas dazu geben, wegnehmen nichts.» Welch wunderbare stoische Haltung!
1513 begann Zwingli Griechisch zu lernen, konnte dann bald den Urtext des Neuen Testaments lesen, den Erasmus von Rotterdam im Jahre 1516 herausbrachte. Durch Erasmus lernte der Lernbegierige einen neuen Sinn in den biblischen Texten zu finden. Das eröffnete ihm einen neuen befreienden Zugang zur Bibel. Denn trotz der Stille des Glarner Bergtals korrespondierte