Sperare Contra Spem. Susanne Hegger
An dieser Stelle schon wird deutlich, dass Balthasar „dem Begriff Gestalt die letzte Ausweitung“429 zumutet, letztlich wiederum nur in analogem Sinn überhaupt von Gestalt sprechen kann.
Die Gestalt, die die vielfältigen Aspekte der göttlichen Selbstoffenbarung zu einer Sinntotalität zusammenschließt, ist nämlich die Gestalt des Lebenszeugnisses Jesu. Der Begriff der christlichen Gestalt meint also näherhin eine personale Gestalt, die es als solche zunächst einmal ähnlich wie eine menschliche Gestalt zu erfassen gilt. „Schon die Gesamtaussage eines rein menschlichen Lebens kann in keiner vereinzelten, noch so sorgfältigen und gewissenhaften Biographie erschöpfend dargestellt werden, sondern nur in der gegenseitigen Ergänzung verschiedener Perspektiven an die mehrdimensionale Lebensgestalt heran; umso mehr gilt dies … für den Fall der Lebensgestalt Jesu“430. Wie jede menschliche Gestalt, so erschließt sich auch die Gestalt Jesu nur mit Blick auf die wechselseitige Bezüglichkeit ihrer unterschiedlichen Dimensionen. Wird ein Moment isoliert gesehen, so gerät die Gestalt als solche aus dem Blick, und umgekehrt erschließt sich der Sinn jedes Aspekts ausschließlich von der Gesamtgestalt her. „Anspruch – Kreuz – Auferstehung sind ihre Artikulationen, die sich in einem strömenden Kreislauf gegenseitig fordern und beweisen.“431
Damit aber bricht in der Ähnlichkeit zugleich die wesentlich größere Unähnlichkeit auf. Jedes weltlich Seiende und somit auch jede menschliche Gestalt steht, so Balthasar, in der ontologischen Differenz und damit in der unaufhebbaren Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz. In der Anteilhabe am Sein selbst ist ihr grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, das eigene Dasein zu übersteigen und in den Dienst an einer höheren Gesamtidee zu stellen. Solches aber bedeutet notwendig immer eine Relativierung der eigenen Existenz. „Wir sahen große personale Gestalten sich so aufbauen, daß eine Existenz sich zum Moment einer übergeschichtlichen Inspiration hergab, dafür unterging und in der Polis der zu humanisierenden Welt ein zum Eschaton hin polarisierendes Zeichen aufrichtete. Ihr Zeichen bleibt tragisch“432.
In Jesus Christus nun ist diese Tragik erstmals, aber für alle Zeit, überwunden. Mit seinem Kreuzestod nimmt er die menschliche Tragik des Scheiterns an einer übergeordneten Idee in ihrer vollen Tragweite auf sich; aber er überwindet sie, „indem das absolute Zerbrechen aller innerweltlichen Erfüllung am Kreuz überholt wird durch die alles und gerade auch diese totale Tragik rechtfertigende Auferstehung aus den Toten.“433 Mit ihrer Auferweckung wird die tragische Person als identisch mit dem transzendenten Gesamtsinn ausgewiesen. Durch diese Bestätigung schließt sich die Figur Jesu zur absoluten und endgültigen Gestalt, die im Vergleich zu weltlichen Gestalten in keiner Weise durch andere begrenzt ist. Vielmehr ist „diese Gestalt … die überschwengliche Erfüllung aller früher umrissenen, die zu ihrer Gestaltwerdung ausdrücklich transzendente Bezugspunkte beanspruchten und bezogen“434. Jede jemals von Gott her ergangene Zusage und Offenbarung ebenso wie die vielfältigen Versuche menschlichen Zudenkens auf Gott hin konvergieren in diesem Einheitspunkt. „Um das unableitbare allerfreieste Faktum von Menschwerdung-Kreuz-Auferstehung des Sohnes ordnen sich konzentrisch nach theo-logischer Gesetzlichkeit alle Ereignisse der Heils- und Weltgeschichte“435. Das Lebenszeugnis Jesu Christi schließt diese Ereignisse zu einer Einheit zusammen und verleiht ihnen dergestalt Sinn. Mit anderen Worten: Er selbst ist die Offenbarungsgestalt.
Diese Gestalt mit den Augen des Glaubens wahrzunehmen und folgend theologisch zur Sprache zu bringen, ist nun das zentrale Anliegen balthasarscher Theologie. „Christus als Mittelpunkt und äußerster Horizont ist bei Balthasar ausdrückliches Programm, das sich durch sein gesamtes Werk vom Anfang bis zum Schluß durchzieht.“436 Ihre Umsetzung findet diese Kon-Zentration vor allem auf dem Weg einer methodologischen Christozentrik. In immer neuen, umkreisenden Denkbewegungen versucht Balthasar, sich der Gestalt Christi mehr und mehr anzunähern. „Wie wir eine Statue umschreiten und dabei unsern Standpunkt kontinuierlich wechseln, um sie ganz zu sehen, so umschreitet die Erkenntnis den Gegenstand in infinitesimal sich verschiebenden Erkenntnisphasen.“437
Nun ist aber die Gestalt Jesu Christi als Offenbarung des Wesens Gottes zugleich Offenbarung der Wahrheit alles weltlichen Seins. Deshalb sind von ihr her auch „die Hieroglyphen des Kosmos als Aussage Gottes zu deuten.“438 Nach Balthasar liegt in der Selbstaussage Gottes in der Gestalt Jesu Christi also die Erfüllung aller menschlich-inchoativen Antwortversuche auf die Grundfrage nach dem Sinn des Seins, in welchem geistigen Kontext und in welcher Formulierung sie auch immer zum Ausdruck kommen mögen. In seinem theologischen Entwurf entwickelt er daher eine Vorgehensweise, die er selbst als „Methode des Einfaltens“439 bezeichnet. In intensivster Auseinandersetzung mit der europäischen Geistesgeschichte ist er stets bemüht, möglichst viele Denktraditionen einzuholen und auf eine Einheit in Christus hin zu synthetisieren. Ziel ist also die Integration aller Wahrheitsmomente in ihrem durch Gott in freier Gnade ansichtig gemachten Konvergenzpunkt Jesus Christus.
2.3.3 Methode der Integration
Die Frage nach dem Sinn und also der Wahrheit des Seins, auf die der Mensch sich nach Balthasar unausweichlich verwiesen sieht, erhält ihre letzte, unüberbietbare Antwort in der Selbstaussage Gottes in Jesus Christus. Von diesem letzten Wort her, das in den drei Silben Leben, Tod und Auferstehung ergeht, wird das Sein Gottes als Liebe verstehbar.440 Gleichzeitig aber wird auch erkennbar, dass alles weltlich Seiende, indem es Anteil am Sein hat, zugleich auch an der Seinswahrheit partizipiert. Aus diesem Grund also, so von Balthasars logische Folgerung, ist davon auszugehen, dass im Bereich des Weltlichen echte Wahrheitsmomente liegen, die als solche der menschlichen Vernunft auch durchaus zugänglich sind. Die neben dem Christentum existierenden anderen weltanschaulichen Angebote sind dann aber zunächst einmal grundsätzlich im Sinne der altkirchlichen Lehre als logoi spermatikoi441 zu würdigen. Getreu der paulinischen Forderung: „Prüfet alles, das Gute behaltet“ (1 Tess 5,21) will Balthasar „die Berechtigung all dieser Ansprüche der Reihe nach prüfen und deren Anteil an Wahrheit als einen relativen anerkennen.“442 Kriterium ist dabei nicht zuletzt die Frage der Kompatibilität. Da die Wahrheit nur eine ist, können die Wahrheitsmomente untereinander schlechterdings nicht unvereinbar sein. Mehr noch: Es gilt jeweils aufzuweisen, dass und in welchem Sinne sie auf den Einheitspunkt hin konvergieren. „Es gibt keine fruchtbare Auseinandersetzung, die nicht irgendwo auch eine Ineinandersetzung wäre.“443
Dies gilt umso mehr, als jede weltliche Erkenntnis notwendig perspektivisch ist und bleibt. Wenngleich sich auch jede neue Untersuchung ihrer eigenen, unübersteigbaren Begrenztheit bewusst zu sein hat, so muss es nach Balthasar doch Ziel sein, möglichst viele Teilwahrheiten zusammenzufügen, um so eine immer umfassendere Sicht auf das Ganze zu bekommen. „Ein altes und beinah abgedroschenes Prinzip der Apologetik wird damit erneut aktualisiert: Recht hat, wer mehr sieht, mehr zu umgreifen vermag“444. Jede geistige Enge, jedes sich gegen andere Ansätze Abschotten lässt daher den Wahrheitsanspruch eines Denksystems in den Augen Balthasars fragwürdig erscheinen. „Gott führt in seiner Offenbarung eine Symphonie auf, von der man nicht sagen kann, was reicher ist: der einheitliche Einfall seiner Komposition oder das polyphone Orchester der Schöpfung, das er sich dafür bereitet hat“.445 Verständnis von Wahrheit ist daher nicht möglich, indem der Mensch versucht, einzelne Töne oder Instrumente heraus zu hören, sondern einzig im Lauschen auf das Zusammenspiel.446
„Gemäß dem auf Sein und Denken bezogenen Schriftwort: ‚Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes‘ [1 Kor 3,23], das als Leitmotiv des gesamten Denkens Balthasars anzusehen ist, besteht nun der Sendungsauftrag der christlichen Philosophie darin, alle Gedanken und philosophischen Entwürfe als Eigentum zu erkennen und in den Dienst Christi zu stellen.“447 In diesem Sinne entwickelt von Balthasar seine Theologie im ständigen Dialog mit den großen Gestalten der Theologie- und Geistesgeschichte. „Schriftsteller und Dichter, Philosophen und Mystiker, alte und moderne, Christen jeder Konfession: Er ruft sie alle, ihren Beitrag zu leisten, aus dem sich die katholische Symphonie zu einer immer leuchtenderen Verherrlichung Gottes aufbauen soll.“448 Er steht ebenso in regem Kontakt mit zeitgenössischen Denkern449, wie er das Studium der Geistesgeschichte