Lehren kompakt II (E-Book). Ruth Meyer
Verarbeitungsgeschwindigkeit nimmt im Laufe des Jugendalters zu, Kinder verarbeiten noch lange nicht so schnell wie Erwachsene. Die neueste Gehirnforschung zeigt, dass die Höchstleistung in einem regelmässig geübten Gebiet (ob Schach oder Bogenschiessen) nach etwa 20 Jahren regelmässigen Übens auftritt. Jugendliche haben viel Übung darin, sich auf ihr Umfeld einzustellen, es zu entschlüsseln und einzufordern, was sie für ihr Überleben brauchen. Deshalb sind sie neugierig und lieben es, zu knobeln und zu rätseln. Noch fehlen aber vielfältige Erfahrungen und Kenntnisse, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen und Fakten in ihrer Bedeutung zu erkennen. Kindern fehlt weitgehend die Möglichkeit, Hypothesen zu formulieren und über abstrakte Bereiche und Konzepte nachzudenken. Erst ab dem zwölften Lebensjahr ist ein Mensch in der Lage, neues Wissen ohne ständigen Rückgriff auf konkrete Erfahrung logisch abzuleiten. Die Fähigkeit zur Vernetzung und zur Entschlüsselung komplexer Situationen steigt, kann deshalb aber noch lange nicht einfach vorausgesetzt, sondern muss vielfach geübt werden. Dass Jugendliche das können, zeigen sie beim Gamen, wo sie oft sehr konzentriert probieren und üben, um einen höheren Spiellevel oder verbesserte Fähigkeiten für ihren Avatar zu erlangen. Allerdings erfolgt hier das Feedback auf den Übungsversuch unmittelbar, sachlich und eindeutig. Daraus könnten Lehrpersonen folgern, dass das Ermöglichen von schnellen Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen mittels bewältigbaren Aufgabenstellungen erfolgsversprechend sein könnte, um die Jugendlichen zum Üben zu veranlassen.
Emotionale Leistung
Bei Jugendlichen ist der Einfluss des Frontallappens im Gehirn, der für die Hemmung und Steuerung von Gefühlen zuständig ist, vorübergehend eingeschränkt. (21) Deshalb reagieren Jugendliche oft impulsiv, ohne die Konsequenzen ihres Handelns richtig zu durchdenken. Auch nimmt bei pubertierenden Jugendlichen die Fähigkeit ab, Emotionen bei andern zu erkennen. Die Entwicklung des Frontallappens ist erst nach dem 20. Lebensjahr abgeschlossen, und erst voll entwickelte Gehirne erkennen Stimmungen und Gefühle aus Mimik und Gestik. Das bedeutet, dass Jugendliche egozentrisch und gefühllos handeln können, weil sie schlicht keine Empathie aufbringen können. Die Fähigkeit zur Empathie kommt im Verlaufe der Zeit wieder, sobald die Gehirnentwicklung einen gewissen Reifezustand erreicht hat. Dies heisst aber auch, dass Empathie und Einfühlung trainiert werden müssen, damit sich die entsprechenden Gehirnstrukturen entwickeln. Auch haben Jugendliche noch wenig Erfahrungen mit Identitäten und wissen wenig vom Werdegang grosser Persönlichkeiten. Sie fangen erst an, sich dafür zu interessieren, wie aus einem Menschen im Verlaufe seiner Biografie ein einmaliges Individuum entsteht. Das Verständnis für Schwächen anderer ist wenig ausgebildet, und Jugendliche sind fest davon überzeugt, es einmal besser zu machen als diese unvollkommenen Vorbilder, die wir Erwachsenen für sie sind.
Lernen als Herausforderung und Spiel
Positives Klima
Das Gehirn speichert die Gefühle beim Lernen mit dem Lerninhalt gemeinsam ab. Wird in schäbigen Klassenzimmern, in einer konfliktträchtigen Umgebung gelernt, sind die Lehrpersonen lustlos und abwertend, kann der Lernstoff kaum dauerhaft im Gedächtnis verankert werden. Was unter Angst gelernt wird, bleibt oft lebenslang mit Angstgefühlen verbunden. Spass am Lernen fördert also eher die Motivation, weiterzulernen, was wiederum zu Erfolgserlebnissen führt und Spass macht. Eine positive Lernspirale kommt in Gang. Die Lernforscher konnten überdies beweisen, dass Lernen am besten gelingt, wenn Druck und Stress wegfallen. Jugendliche müssen also (wie alle, die etwas lernen sollen oder wollen), positiv angesprochen werden, damit ein Lerneffekt erreicht wird. Erfolgserlebnisse spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren und wie Lerndoping wirken.
Aktiv lernen
Lernprozesse sind umso nachhaltiger, je mehr die Lerninhalte mit konkreten Tätigkeiten verbunden werden. Indem Lernende selbst aktiv werden, durch aktives Denken und Formulieren, werden im Gehirn neue Nervenschaltungen gebildet. Selbsttun ist also notwendige Voraussetzung für das Lernen. Aktiv lernen heisst auch: aktiv mitdenken, kritisch hinterfragen, mit Interesse bei der Sache sein. Wenn Sie diesen Text mit Interesse lesen, gleichzeitig innerlich Beispiele suchen für die gelesenen Sachverhalte und Behauptungen und mit der Autorin in einen inneren Diskurs treten, verändert sich Ihr Gehirn physisch. Das, was in diesem Augenblick in Ihrem Gehirn angelegt wird, wird reaktiviert und erweitert, sobald Sie sich in Zukunft wieder an das Gelesene erinnern.
Spielend lernen
Daraus ergibt sich eine interessante Schlussfolgerung: Lernen als lustvolle Aktivität ist Spiel, Spielen ist Lernen. Kinder machen es uns vor, wie das geht, lustvoll und entspannt handelnd zu lernen – und wir Erwachsenen bezeichnen das als «nur spielen». Könnten wir Lernende dazu bewegen, wieder einmal zu spielen, dann wäre lebenslanges Lernen keine Drohung mit Büffeln und Pauken mehr, sondern eine Einladung zur lustvollen Weiterentwicklung.
Denn Lernen ist die natürliche Lieblingsbeschäftigung unseres Gehirns. Um lustvoll und spielerisch zu lernen, müssen wir Interesse entwickeln, eine Beziehung zum Lernstoff aufbauen. Diese Beziehung, dieses Interesse führt uns dann vom Aufnehmen zum Lernen, indem wir das Gehörte oder Gelesene mit anderen Erkenntnissen in Zusammenhang setzen und damit eine innere Vorstellung vom Stoff aufbauen. Und erst wenn wir in unserer Begeisterung für den Lernstoff unsere Erkenntnisse mit jemand anderem geteilt haben, unsere Zusammenfassung also weitergegeben haben, ist aus dem «Mal-gelesen- oder Mal-gehört-Haben» etwas Gelerntes geworden.
Die Ergebnisse der modernen Lernforschung belegen diese Aussagen klar. Die Gestaltung einer stressfreien Lernumgebung, die Bereitstellung lernförderlicher Rahmenbedingungen, die Aktivierung der Lernenden sind wesentlich bedeutsamer und lernwirksamer als perfekte Präsentationstechniken der Lehrpersonen. Die folgenden sieben Merkmale ermöglichen ein aufbauendes Entwicklungsklima:
•Anerkennend
•Ressourcenorientiert
•Beziehungsorientiert
•Ohne Druck
•Wertebasiert
•Involvierend
•Selbstständigkeit fördernd (20b)
Eine spezifische Schwierigkeit beim Lernen von Jugendlichen besteht darin, dass sich die Erwartungen der Schule üblicherweise weit von den Eigenheiten des jugendlichen Lernens wegbewegen. Diese Diskrepanz ist der Anlass, um in Kapitel 3 grundsätzlich über Unterrichtsgestaltung nachzudenken und im zweiten Teil dieses Buches die Lernformen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Übertriebene Erwartungen der Schule
Die Erwartungen, die an einen idealen Lernenden gestellt werden, hat Rolf Göppel (18, S. 179 f.) sehr anschaulich und vollständig ausgeführt. Ich lehne mich eng an seine Darstellung an.
Eine Ausbildungsinstitution erwartet von einem idealen Lernenden:
1.Wohlwollen und grundsätzliches Interesse gegenüber Bildung im Allgemeinen und der Schule im Speziellen
2.Respekt und Anstand, Freundlichkeit und konstruktive Zusammenarbeit gegenüber Lehrpersonen
3.Fragloses Akzeptieren der Rolle als Lernender und Lernbedürftiger
4.Aufmerksame und konzentrierte Mitarbeit im Unterricht
5.Bereitschaft, sich auf alle Unterrichtsinhalte einzulassen
6.Argumentative Fähigkeiten und kritisches Bewusstsein gegenüber dem Stoff
7.Hilfsbereitschaft innerhalb der Klasse
8.Effektive Lern- und Arbeitstechniken
9.Fähigkeit zum Auftreten und Präsentieren vor der Klasse
10.Engagement auch ausserhalb der Unterrichtszeit bei Hausaufgaben
11.Beharrungsvermögen und Zielstrebigkeit, um auch langfristige Lernziele zu erreichen
12.Akzeptieren der Zielsetzungen und Prioritäten, die die Lehrperson im Rahmen