Litersum - Musenfluch. Lisa Rosenbecker
und richteten die Blicke auf mich. Sie gingen davon aus, dass ich heute noch weitere, bereits ausgebuchte Gruppen in die Pop-up-Buchwelt führte, weshalb man nicht noch einmal spontan einsteigen konnte. Und davon, dass es pro Besuch nur dreizehn Teilnehmer sein durften, die nur eine Stunde Zeit hatten, bevor der nächste Termin anstand. Doch das waren Lügen, Vorwände, um die Besichtigungen einzugrenzen. Mein Alltag ließ einfach nicht mehr zu, die Dreizehn war meine Lieblingszahl und zu viele Besichtigungen an einem Tag erhöhten möglicherweise die Gefahr, entdeckt zu werden. Und davon hätte niemand etwas.
In Gedanken ging ich meinen Terminplan durch.
»Vielleicht in zehn Tagen«, antwortete ich. »Ihr werdet es im Forum erfahren. Ich hoffe, ihr hattet Spaß?« Erneut versanken sie in Schwärmerei und Vorfreude auf das nächste Mal. Sehr gut. So würde die Kasse weiter klingeln. Ich sah ihnen hinterher, als sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Ein paar von ihnen wollten noch etwas zusammen essen gehen.
Apropos essen … Das Heartbreak Hotel wartete auf mich. Trotz der Aussicht auf noch mehr Arbeit schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Der alte Diner mit dem Rockabilly-Charme war einer meiner liebsten Orte in London. Die pastellfarbenen Bänke und Metalltische, die alten Radios und die Jukebox, die nur noch diesen einen Song von Elvis spielen konnte – sie strahlten Vertrautheit aus. Seit Jahren war die Atmosphäre gleich, hieß mich willkommen, egal, wie sehr ich mich verändert hatte. Oder die Welt um mich herum.
Meine Schürze lag schon hinter dem Tresen bereit, als ich im Diner ankam. Sophia, die an diesem Abend mit mir die Schicht übernahm, hatte sie mir rausgelegt. Sie grüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. Es war mir ein Rätsel, wie sie es nach einem langen Tag an der Uni noch auf die Reihe brachte, zu arbeiten und fröhlich auszusehen. Mich kostete es alle Anstrengung, die Gäste mit der vorgeschriebenen Freundlichkeit zu empfangen. Denn auch wenn ich den Diner liebte, lag mir das dauernde Reden mit den Gästen nicht. Das Aufnehmen der Bestellungen, die kurzen Small Talks und die Verabschiedungen gepaart mit dem Dauerlächeln schlauchten mich. Meine kurzen Unterredungen mit den Bloggern, die sich die meiste Zeit um sich selbst kümmerten, glichen im Vergleich dazu einer Erholung. Die Müdigkeit ließ meine Muskeln jetzt schon aufstöhnen und ich hatte noch acht Stunden Arbeit vor mir, in denen die grelle Neonröhrenbeleuchtung mir in den Augen brennen würde. Ab und zu zwang ich mich hinter dem Tresen zu einem Moment der Ruhe, trank einen Schluck der Cola-Konkurrenz und atmete tief durch. In einem dieser Augenblicke gesellte sich Sophia zu mir. Sie stellte einen Stapel dreckiges Geschirr vor die Durchreiche zur Küche, wo es von den Aushilfen in Empfang genommen wurde. Mit schnellen Griffen zapfte sie sich ein Wasser aus dem Hahn und lehnte sich neben mich an die Schränke. Ich bewunderte ihre dunkelblaue Jeans, die an manchen Stellen große Löcher hatte. Es gab nicht viele, denen das stand, aber Sophia war eine von ihnen. Gepaart mit dem am Bauch zusammengeknoteten karierten Hemd passte sie ganz hervorragend zum Flair des Diners, weshalb unser Chef ihr diesen Stil durchgehen ließ. Andere Restaurantbesitzer wären an die Decke gegangen. Auch bei mir, weil ich mit einem grauen Strickpullover, schwarzen Hosen und lavendelfarbenen Chucks nicht wirklich wie eine Kellnerin aussah. Aber zum Heartbreak Hotel passte es.
Sophia deutete mit dem Kopf auf den Innenraum. »Ganz schön viel los heute.«
Ich nickte. »Man könnte meinen, wir wären die Einzigen, die heute offen haben. Als gäbe es im Rest der Stadt nichts mehr zu essen.«
»Das sind die Apfel-Pancakes. Die locken alle hierhin«, sagte Sophia und lachte. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Mein Magen knurrte wie aufs Stichwort. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, erkundigte sie sich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Keine Ahnung. Mir reicht erst mal die Cola.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Natürlich. Ich frage Joey mal, ob er ein paar Reste für uns übrig hat. Vielleicht sind wieder ein paar Pfannkuchen missglückt.«
Tatsächlich kam sie wenig später mit einem Teller voller Pancakes samt karamellisierten Apfelstücken zurück.
»Die sehen aber nicht angekokelt aus«, stellte ich fest, als ich einen ersten Bissen nahm. Sophia steckte sich schmunzelnd ein Stück Obst in den Mund. Ihre grünen Augen blitzten wissend auf. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Joey hatte die Pancakes extra für uns gemacht. Von wegen Reste … Ich holte Luft, doch Sophia ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Ich gehe heute Abend mit ein paar Freunden noch etwas trinken. Hast du Lust, mitzukommen?«
Meine To-do-Liste blinkte vor meinem inneren Auge auf. Die Grafikaufträge warteten … Ganz zu schweigen von den Kosten für einen Drink in London. »Sorry, aber heute ist es echt schlecht.«
Sophia verzog den Mund zu einer missmutigen Schnute. »Das ist es immer.«
»Ich wünschte wirklich, es wäre nicht so. Entschuldige.« Ein Paar in einer Sitzecke winkte mir zu. Ich schluckte den letzten Bissen hinunter, legte die Gabel neben den Teller und wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Die Pflicht ruft.«
Am Ende meiner Schicht taten mir die Füße weh und ich sehnte mich nach meinem Bett. Doch der Tag beziehungsweise die Nacht war noch lang. Ich legte meine Schürze in den Schrank im Hinterzimmer, bedankte mich bei Joey für das Essen und machte mich auf den Weg nach Hause. Vor der Tür zog ich meine Jacke fester um mich. Es wurde immer kälter, und schneller, als mir lieb war, würde der Winter kommen, und mit ihm die dunklen Tage, die nie zu enden schienen.
Zurück bei der Buchhandlung, durch deren Tür ich am Mittag die Buchverrückten geführt hatte, stellte ich erstaunt fest, dass im Verkaufsraum noch Licht brannte. War Lauren etwa noch immer hier? Statt zur Haustür zu gehen, die in meine Wohnung über der Buchhandlung führte, klopfte ich an die Tür von Books by Bea. Ich wollte nur kurz schauen, ob alles in Ordnung war. Vielleicht war Lauren auch wieder in einer Geschichte abgetaucht und hatte die Zeit vergessen.
Es dauerte nicht lange, bis sie nach vorne kam und mir öffnete. Ihre dunkelbraunen Haare thronten in einem losen Knoten auf ihrem Kopf. Lauren war nur ein paar Jahre älter als ich, Mitte zwanzig, und führte die Buchhandlung nun schon seit drei Jahren. Ihr Vater war überraschenderweise sehr krank geworden und er und ihre Mutter Bea, nach der der Laden benannt war, hatten die Arbeit dort aufgeben müssen. Er aus gesundheitlichen Gründen, sie, weil sie ihn pflegte. Wenn Not am Mann war, half Bea aus, ansonsten aber war Lauren mit ihren drei Mitarbeiterinnen auf sich allein gestellt ‒ und handhabte es wunderbar. Sogar jetzt, nach einem langen Tag, hatte sie noch ein Lächeln für mich übrig, als sie mir die Tür aufhielt.
»Was machst du denn noch hier?« Sie ließ mich rein und schloss hinter uns ab.
»Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast doch schon seit Stunden Feierabend.«
Laurens Augen glänzten und sie rieb sich die Hände. »Die neuen Bücher für diesen Monat sind gekommen, ich dekoriere gerade den Tisch, damit der Verkauf direkt morgen starten kann. Hast du Lust, zu helfen?«
Die To-do-Liste … Doch Lauren überließ mir die möblierte Wohnung über dem Laden zu einer Miete, die weit unter dem Niveau vom Rest der Stadt lag. Sie verlangte nie etwas als Gegenleistung, doch ich war ihr etwas schuldig. Ab und an auszuhelfen, musste drin sein.
»Klar«, sagte ich und zog meine Jacke aus. Im Laden war es angenehm warm und das Schleppen von Büchern dadurch schweißtreibender, als man meinte. Lauren trug nur ein blassrosa kurzärmeliges Shirt über der dunklen Jeans. Sie winkte mich mit sich in den hinteren Teil des Ladens in die Jugendbuch-Ecke. Auf einem Rollwagen lagen die Novitäten und warteten darauf, auf einem runden Tisch in der Mitte platziert zu werden. Lauren deutete darauf.
»Die High-Fantasy-Titel kommen auf diesen Tisch, die anderen dort drüben hin, damit bin ich aber schon fast fertig. Du kannst die übrigen Bücher stapeln und den Rest ins Regal stellen …«
»Alphabetisch sortiert nach dem Nachnamen der Autorinnen und Autoren, ich weiß.«
Sie grinste. »Sehr gut, du hast es dir gemerkt. Dann lasse ich dich kurz allein und hole die Deko. Ich habe ganz tolle Sachen auf Etsy gefunden.«
Sie verschwand