SOKO Marburg-Biedenkopf. Группа авторов
meine einzige noch lebende Verwandte. Es war mir wie ein Fingerzeig des Schicksals erschienen, dass mir plötzlich eine Erbschaft ins Haus stand: Von heute auf morgen war ich Besitzer einer Immobilie in der stillen Abgeschiedenheit des mittelhessischen Hinterlands geworden. Ja, lachen Sie nicht, hören Sie doch erst mal zu. Ein unscheinbares Einfamilienhaus mit einer kleinen Einliegerwohnung am Fuße des Eschenbergs in Biedenkopf. Frau Breugel, die dicke alte Untermieterin, empfing mich freudig und weihte mich in den folgenden Wochen in die Geheimnisse von Biedenkopf ein. Sie ist sehr mütterlich.
Biedenkopf – das klingt schon so … bieder. Das hört sich nach Ruhe und Beschaulichkeit an. Das versprach mir in meinem Zustand rasche Genesung. Und so war es dann auch. Vom ersten Moment meiner Ankunft in dem Städtchen an der Lahn habe ich gespürt, dass Geist und Körper begannen, Energie zu tanken. Was für ein Kontrast zu meinem bisherigen Leben in den Metropolen der Bundesrepublik, mit ihren Flughäfen und Hotels, mit ihren riesigen Konzernsitzen, Mietskasernen und Parteizentralen. Was für einen Unterschied bieten diese putzigen bunten Fachwerkgassen zu den finsteren Großstadtschluchten, über die hinweg ich bisher mit seinem Nachtsichtgerät meine Ziele anvisiert hatte.
Hier trägt die Tageszeitung mit Stolz den Titel »Hinterländer Anzeiger«, und das Skigebiet den absurden Namen »Sackpfeife«, hier gibt es kein organisiertes Verbrechen und keine Großbordelle. Nicht mal Kleinbordelle. Halten sich hier nicht.
Hier gibt es Natur, schöne Aussicht und gute Luft. Und zwar jede Menge davon.
Ich konnte ja gar nicht anders, als hier gesund zu werden.
Es dauerte nicht mal ein Jahr, und ich war wieder topfit.
Ich weiß nicht, ob Sie das kennen, aber wie alles, über das man im übermaß verfügt, begann irgendwann auch die Entspannung mich zu langweilen. Immer nur spazieren gehen wird auch anstrengend. Egal ob mit oder ohne die alte Frau Breugel, die mich, glaube ich, fast adoptiert hat. Ja, es waren diese elend gemütlichen Spaziergänge, die eines Tages anfingen, mich richtig aufzuregen. Weil sie mich auf den immer gleichen Pfaden durch die Wälder rund um das Lahntal führten, hin zu den traditionellen Kartoffel-Bratplätzen und bei Wind und Wetter durch die Sträßchen der Oberstadt, wo ich die fein mit schwarzer Farbe hingepinselten Sinnsprüche in den Gefachen der alten Häuser schon fast alle auswendig kann.
So mancher geht vorüber
und nimmt es nicht in Acht,
daß jede viertel Stunde
sein Leben kürzer macht.
Ich fühlte plötzlich, dass mir etwas fehlte. Ich habe einen, wie ich finde, ordentlichen Beruf erlernt und habe ihn viele Jahre erfolgreich ausgeübt. Dazu hat mir mein großes Talent verholfen. Das Talent, das nun schon vier Jahreszeiten lang brachliegt.
Es kam mir plötzlich so vor, als sei das schon eine Ewigkeit her, dass ich zuletzt einen richtig schön sauberen Auftragsmord ausgeführt hatte. Ich erinnere mich genau. Ein Politiker. Christdemokrat. Badewanne. Der Klassiker.
Es war ein sonnendurchfluteter Junitag, an dem mein Spaziergang mich zum gefühlten dreihundertsten Mal zum Schloss hinauf führte. Ich stand an der Mauer, ließ den Blick über die bewaldeten Hügel des Hinterlandes schweifen, blickte auf die Stadt hinunter und guckte dem silbern glänzend Band der Lahn hinterher, das sich durch das bebaute Tal windet.
Hier ist alles Tradition und Folklore, hier bleibt man im Lande und nährt sich redlich. Kein Wunder, dass Karin Tietze-Ludwig mit Abstand die berühmteste Persönlichkeit ist, die aus Biedenkopf stammt.
Ich ging den Weg zum Schlosshof hinauf. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Etwas war anders als sonst. Nicht das alte Gemäuer, nicht der trutzige, zinnenbewehrte Bergfried, nein, etwas in mir selbst. Ich versuche es mal so zu beschreiben: Eine Art vorfreudiger Unruhe, von der ich nicht wusste, wo sie herkam.
Wie von selbst führten mich meine Schritte rechter Hand durch das hölzerne Portal in die Räumlichkeiten des Museums. An diesem Tag herrschte großer Betrieb, denn das schöne Wetter hatte viele Wanderer angelockt. Ich schnappte Satzfetzen auf Holländisch und Englisch auf. Alles war mir bestens vertraut. Die riesige Esse der Burgküche, das liebevoll ausgestaltete Szenario mit der Postkutsche.
Auch in der ersten Etage war alles wie immer. Historische Gerätschaften aus den Hinterländer Haushalten, die Grenzgangstrachten – vergangene Zeiten, in Unbeweglichkeit erstarrt. Nein, trotzdem, etwas war heute anders. Als ich die Hand auf das Treppengeländer legte, sah ich, dass sie zitterte. Was war nur los?
Es ging weiter hinauf ins nächste Stockwerk. Und dort blieb mein Blick an einem großen Holzstamm und an mehreren martialisch aussehenden Äxten und Beilen hängen. Ich spürte, wie meine Fäuste sich in den Jackentaschen ballten. Das war es! Noch nie hatte ich mit einer Axt gearbeitet! Dies war das einzige Mordwerkzeug, das hierher passte, in diese Idylle. Eine ehrliche, rustikale Mordwaffe. Und im nächsten Moment durchzuckte mich ein weiterer Geistesblitz, und ich taumelte, vorbei an den überraschten Touristen, wieder hinunter in die Grenzgangs-Ausstellung.
»Der Stein, die Grenze, in Ewigkeit« Das ist die geheimnisvolle Formel, die beim Grenzgang deklamiert wird, bei diesem einzigartigen Volksfest, das nur alle sieben Jahre hier stattfindet. Ich hatte bereits schon so viele Geschichten darüber gehört. Tausende von Menschen marschieren aus einer alten Tradition heraus drei Tage lang die Grenzen des Stadtwalds ab und feiern dabei ein Fest, von dem sie sich offenbar erst einmal wieder sechs Jahre lang erholen müssen.
Und dann sah ich sie! Dort an der Wand waren sie ausgestellt: Die traditionellen Hüte und Schärpen der Grenzgang-Gesellschaften. Am ersten Tag des Grenzgangs wecken die Böllerschüsse vom Schloss die Bürger des Städtchens, und wenig später versammeln sich die elf Männergesellschaften und die acht Burschenschaften aus den einzelnen Straßen unter lauter Blasmusik auf dem Marktplatz, von wo aus das bunte Treiben sich dann seinen Weg bahnt.
Ich habe sie mir nie so richtig vorstellen können, all die kauzigen Rituale, die an den Grenzsteinen vollführt werden. Ein bunt kostümierter Mohr spielt eine wichtige Rolle, so viel kann ich sagen. Und Hauptmann und Reiter und Wettläufer und all so was. Und Bier. Sehr viel Bier auch.
Diese Hüte und die bunten Schärpen zogen meinen Blick magisch an. Ich dachte wieder an die schweren Äxte, und mit einem Mal sah ich die Köpfe, auf denen diese Hüte einmal gesessen hatten. Und ich bekam in diesem Moment eine unbändige Lust, wieder einmal zu arbeiten.
Als ich am Abend den ersten Namen auf einem Zettel notierte, war mir bewusst, dass diesmal alles anders sein würde als bei den Morden früherer Tage. Damals hatte ich im Auftrag anderer gehandelt. Dieses Mal trieb mich nichts weiter an als die eigene Kreativität. Serienmörder hatten mich von jeher fasziniert. Das waren Künstler, die immer das große Ganze im Blick hatten. Das wollte ich jetzt auch mal ausprobieren. Ich saß bei einer Tasse Kräutertee am Panoramafenster meines Wohnzimmers und studierte Telefonbücher und Heimatkalender. Unten auf der Terrasse saß Frau Breugel und reckte ihr faltiges Dekolletee zum Bräunen der Sonne entgegen. Neunzehn Morde, das war kein Pappenstiel, aber schließlich hatte ich ja fast ein ganzes Jahr dem süßen Nichtstun geopfert. Ich war jetzt wieder bereit.
Ich hatte mir vorgenommen, mit den Männergesellschaften zu beginnen und mich nach dem Alphabet durchzuarbeiten. Die erste Gesellschaft trug den wohlklingenden Namen »Galgenberg«. Glauben Sie nicht? Ist aber so!
Zuerst hatte ich erwogen, mir heimlich eine der historischen Äxte aus dem Museum zu borgen, aber das erschien mir dann doch zu riskant. Mit diesen alten Dingern machte man ja außerdem unter Umständen auch mehr kaputt als nötig. Ich fuhr extra bis nach Kassel, um mir im Fachhandel eine vernünftige Spaltaxt zu kaufen. An Kohlköpfen und Wassermelonen übte ich ein paar Tage lang heimlich, bis ich glaubte, den richtigen Schwung rauszuhaben.
Und dann knöpfte ich mir also Heinz Füchtner vor. Männerführer bei der Grenzganggesellschaft Galgenberg und Kassierer im Edeka Hercules. Ich fand ihn abends in der Kneipe »Zur Gini«, gleich beim Marktplatz. Da saß der Füchtner offenbar häufig und ausdauernd. Ich trank mein Bierchen und schielte immer wieder wachsam zu der länglichen Sporttasche hinüber, die ich an der Garderobe abgestellt hatte, und in der mein Handwerkszeug verborgen war.
Irgendwann