Erlebnis Bergjagd. Группа авторов

Erlebnis Bergjagd - Группа авторов


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über die Aurach, zugleich Jagdgrenze, dann über die Staatsstraße und das darüberliegende Bahngleis zu wechseln, das dauerte jedesmal eine wahre Ewigkeit für den der Dinge, die da kommen sollten, harrenden Jäger. Und dieser Jäger, so wurde es gleich nach der „Entdeckung“ beschlossen und ausgemacht, war mein Bruder.

      Daß ein starker Hirsch beim Rudel stand, war seit dem 20. September klar, denn an diesem Tag ließ er uns zum ersten Mal seine Stimme hören – und was für eine Stimme! Ihn in Anblick zu kriegen oder gar ihn einigermaßen sicher anzusprechen, das war eine ganz andere Sache, obwohl er pünktlich jeden Abend hinter seinem kopfstarken Rudel erschien, aber nie vor zehn Uhr abends! Die Nacht verbrachte er mit seinem Harem ungestört auf den steilen Buckelwiesen zu Füßen des Rhonberges und schrie, daß die Erde zu erbeben schien.

      Ende September wird es, je nach Wetter, zwischen halb sechs und sechs Uhr früh schußlicht. Unser „Aurach-Hirsch“, wie wir ihn alsbald tauften, verließ unsere Gefilde am Morgen ebenso pünktlich, wie er am Abend kam, nämlich schon gegen halb vier. Das war um gute zwei Stunden zu früh!

      Von dem kleinen Heustadel aus, der gleich neben der Straße stand, wo wir das aufregende Geschehen jeden Morgen mit Auge und Ohr, aber viel mehr mit dem Ohr verfolgten, nahm es sich ungefähr so aus: Oben vom Rhonbergwaldrand, in dessen Nähe sich das Rudel während der Nacht mit Vorliebe aufzuhalten schien, stieg die Stimme, wenn es gegen Morgen ging, tiefer und tiefer langsam herab ins Tal. Entweder dröhnte der Kampfruf in die Benzinger Berge hinüber, dahin, wo die anderen Hirsche meldeten, oder, ewig unvergeßlich, schallte der urige Sprengruf einmal da, einmal dort über die schlafenden Buckelwiesen: Dumme, trügerische Hoffnung, wenn es noch weiter oben war, enttäuschendes Verzagen, wenn er schon zu weit herunterkam, bis die Resonanz der steinernen Bahnunterführung die mächtige Stimme des Geisterhirsches noch verstärkte.

      Dann wird es plötzlich still. Totenstill. Der Wind steht gut, nicht nur gut, er ist todsicher. Wäre es anders, hätte man ja hier beim Stadel nie und nimmer gelauert! Blick auf das Leuchtblatt – halb vier! Der Hirsch verschweigt. Dann geht es Schlag auf Schlag in programmmäßiger Folge: Knirschende, rutschende Schottersteine auf dem Bahnkörper, einmal, zweimal, zehnmal. Nach zwanzig Sekunden Pause hastiges Klappern von Schalen über die harte Straße. Und schließlich seltsam saugende, dumpfe Laute – das Rudel setzt über die Aurach! Vielleicht noch ein gewaltiger Platscher im Wasser des Bachs. Das war wohl „er“, der schnell ein erfrischendes Morgenbad mitnimmt nach der kräftezehrenden Nacht. Jetzt sind sie alle drüben, jenseits der Aurach, jenseits der Jagdgrenze. Adieu, Aurachhirsch! Vielleicht auf morgen, wenn der Angrenzer uns nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Er hätte es viel leichter als wir, wenn das Rudel bei ihm zu Berg in den Tageseinstand zieht.

      Doch drüben fällt kein Schuß. Um halb sechs fängt der Hirsch wieder eifrig zu melden an. Wir hören ihm eine Zeitlang zu, dann gehen wir. Bis zur Rhonberghütte haben wir etwas mehr als eine Stunde.

      Harald wartet schon mit dem Frühstück, das er jeden Morgen trefflich zubereitet. Er hat nichts gesehen in seinem „Hochgraben“ und auch nichts gehört. Und ist trotzdem bei bester Laune!

      Unsere Aussichten auf den Gespensterhirsch an der Aurach waren alles andere als rosig. Da er die Wiesenleite am Rhonberg nur während der Nacht mit seiner mächtigen Stimme beehrte, schien seine Erlegung uns bald so gut wie unmöglich, ihn in Anblick zu kriegen, schwierig genug. Bei letzterem kam uns, völlig unerwartet, ein Zufall zu Hilfe. An einem der letzten Tage im September fuhren wir wieder einmal spät abends, von Schliersee kommend, nach Fischbachau. Als wir die bewußte Stelle unterhalb der Bahnunterführung absichtlich mit stark verminderter Geschwindigkeit passierten, überfiel plötzlich ein Hirsch mit anscheinend gutem Geweih hochflüchtig die Fahrbahn – dicht hinter ihm, aber trotz unserer gedrosselten Geschwindigkeit schon wesentlich näher, ein zweiter, der offensichtlich den Rivalen in Richtung Rhonberg hinauf sprengte.

      „Das war er!“ riefen wir alle drei außer uns vor Erregung wie aus einem Mund. Und alle drei hatten wir, obwohl der ganze Vorgang nicht länger als höchstens drei oder vier Sekunden gedauert haben kann, genau das gleiche festgestellt: Der Verfolger war in seiner Gestalt ein Riese von einem Hirsch im Vergleich mit dem Verfolgten. Während dieser aber ein vielendiges Geweih auf dem Haupte trug, also zumindest ein Kronenzehner oder -zwölfer war, stach uns beim Verfolger die Endenarmut sofort ins Auge: Ein unheimlich hohes Geweih mit sehr starken Stangen, halbarmlangen, weit nach aufwärts geschwungenen Augenenden, aber sonst ziemlich nackt und leer. Ein alter Sechser, höchstens ungerader Achter, so lautete unsere übereinstimmende Meinung. Auf jeden Fall aber ein Prügelhirsch, geradezu ein Stier in seiner ganzen wuchtigen Erscheinung. Hier schien der Name „Stier“, wie die Graubündener Jäger jeden Hirsch, auch den Spießer vom ersten Kopf nennen, wahrlich nicht unangebracht. Es war ein überwältigendes Erlebnis, diese nächtliche Begegnung auf der Schlierseer Landstraße. Und auf dem kurzen Rest der Fahrt und auch noch beim Aufstieg zur Hütte wurde nicht viel gesprochen. So stark hatte uns die Erscheinung des Aurachhirsches in ihren Bann geschlagen.

      Wer hätte es geahnt oder erhofft, die zweite Begegnung mit dem Gespensterhirsch sollte schon kurze Zeit später stattfinden. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen – lebhafter Brunftbetrieb auf der Rhonbergleite während der Nacht, totale Leere und Stille bis lang nach Schwinden des Büchsenlichtes und schon lange vor Morgengrauen – gab es einen Wetterumschlag. Kälteeinbruch mit leichtem Schneefall bei Windstille. Am Abend des letzten Septembertages waren der Wald und die Buckelwiesen am Rhonberg weiß, eine verzauberte Landschaft.

      Die Nacht zum 1. Oktober. Wir treten vor die Hütte. Es ist kalt, der Himmel hat aufgeklart – Hirschbrunftwetter! Hell scheint der Mond auf den schneeüberzuckerten Wald herab. Wenn wir „ihn“ heute nicht sehen, dann nie – wir müssen bald aufbrechen!

      Harald streikt. Er möchte noch ein paar Stunden schlafen und dann nach seinem „Hochgraben“ gehen. Mein Bruder und ich ziehen allein los.

      Schon gegen zwei Uhr früh sind wir unten auf der Hauptstraße, wo die drei „Parallel-Linien“ beginnen. Mit größter Vorsicht nähern wir uns dem kleinen Heustadel; wegen des Neuschnees und der Helle der Nacht muß man höllisch aufpassen, nicht eräugt zu werden. Es ist zwar weit hinauf über den Bahnkörper bis zur Rhonbergleite, doch man kann nie wissen in solch einer Nacht. Auch dem Wild ist der erste Schnee noch ungewohnt, und überall kann ein Paar wacher Lichter auf Posten stehen. Ein einziger Schrecklaut – welch ein Schreck für den Jäger – und aus ist der Traum!

      Der Heustadel ist leider verschlossen. Zum Schießen wäre es von hier ohnehin viel zu weit.

      Ich weiß heute nicht mehr, mit wieviel böser Absicht wir diesen nächtlichen Pirschgang begannen. Die Mondscheinjagd auf Schalenwild – mit Ausnahme auf Schwarzwild (!) – war, wenn ich mich recht entsinne, damals schon gesetzlich verboten. Das allein hätte aber das junge Blut wahrscheinlich nicht abgehalten. Ein Schuß auf den Aurachhirsch drei Stunden zu früh, das hätte man schon irgendwie hingekriegt. Ob das ungeschriebene Gesetz der Weidgerechtigkeit meinen Bruder zur Abstinenz vom Schuß in der Nacht veranlaßt hätte, wage ich nicht zu behaupten, ich will uns nicht besser machen, als wir waren. Ein großer Anstoß zur Enthaltsamkeit war sicher der Benzinger Jagdnachbar. Der noble, durch und durch korrekte und weidgerechte Jäger hätte für eine solche Nachtjagd auf den Brunfthirsch, ganz gleich wie weit von seiner Grenze entfernt, kein Verständnis aufgebracht und sie uns sicher schwer verübelt.

      Über die Mondscheinjagd an sich soll hier keine lange Betrachtung stattfinden. Das ungeschriebene Gesetz muß jeder in der eigenen Brust tragen und wissen, was er draußen zu tun und zu lassen hat, um vor sich selbst sauber dazustehen. Und insoweit mag jeder seine eigene, höchstpersönliche Jagdmoral haben, und man soll sich hüten, einen anderen voreilig zu verdammen. Ich selbst habe mein ganzes Leben lang, wenn Frau Luna allein das Büchsenlicht spendete, auf keinen Hirsch oder Rehbock geschossen. Ich finde, unser geplagtes Wild im „Kulturland“ sollte wenigstens während der Nacht seine Ruhe haben. Ein nächtlicher Schuß nur zur Befriedigung des Jagdvergnügens, ohne daß eine zwingende Notwendigkeit ihn rechtfertigt, bleibt bei mir immer im Lauf!

      Für den zünftigen Wildschützen vor hundert Jahren mag es vergnüglich und romantisch gewesen sein, zu mitternächtlicher Stunde das Fenster des Almkasers leise zu öffnen und, vielleicht


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