HEAR 'EM ALL. Группа авторов

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Extended Version, oder jener Transzendenz-Moment, in dem Clarence Carter seine mächtige Stimme zum Gesang erhebt, nachdem er 4.07 von fünf Minuten damit verbracht hat, darüber zu sprechen, wo und wie diese und jene Tiere Liebe machen, um dann endlich »At The Dark End Of The Street« zu singen, so zu singen, dass mich immer, wirklich immer, eine Gänsehaut erwischt. Wobei ich mir gerade nicht so sicher bin, ob ich den großen Lizzy-Moment den Lesern dieses Buches mit solchen Vergleichen schmackhaft machen kann. Egal, ich hatte einen tollen Abend beim Wiederhören von »Live And Dangerous« und »Live At Budokan« von Cheap Trick, das hier eigentlich noch ausführlich gewürdigt werden sollte, wozu der Platz nicht reicht. Zwei glorreiche Ausnahmen von der Regel, dass Live-Alben immer scheiße sind und meine zwei Metalplatten für die Insel, wobei Cheap Trick ja eher so Beatles-Bubblegum-Metal sind. Was noch?

      1. Tonight. Es gibt nicht viele Sänger, die das Wort »Tonight« derart mit Erwartungen aufladen können und sich dabei nur kleinere Manierismen gönnen. Das Album beginnt mit Lynotts Ankündigung: »Tonight there’s gonna be a jailbreak« – und es ist Drohung und Versprechen zugleich. Mütter sperrt die Gefängnisse zu, sonst kommt Lynott in die Stadt.

      2. Detroit. Auf Julian Copes »Detroitrocksampler« würden Thin Lizzy super passen, zwischen Funkadelic und Bob Seger System. Seger (ohne System) covern sie auf »Live And Dangerous«, seinem »Rosalie« geben sie einen ganz und gar unheavy Swing mit, den der hart arbeitende Detroiter nie hinbekommen hätte. Bei 184 Sekunden schnippen sie noch so einen magischen Moment in the air.

      3. Funkadelic. Wäre auch ein Adjektiv für Lynott. Das ist eine Chance, dich rauszutanzen aus deinen Beschränkungen, heißt es in »One Nation Under A Groove«, dem populärsten Song von George Clintons Band Funkadelic. Auf dem gleichnamigen Album geht es darum, Beschränkungen und Grenzen zu überwinden, politische, soziale, musikalische, exemplarisch in dem Song »Who Says A Funk Band Can’t Play Rock?!« Die rhetorische Frage ist Clintons Antwort auf die tendenziell rassistische Segregationslogik der Musikindustrie. Nach dieser Logik ist Rock eine genuin weiße Musik, Afroamerikaner – oder Afroiren (ja, das Wort sieht komisch aus ohne Bindestrich) – haben sich gefälligst auf die als Schwarz markierte Musik zu beschränken, also Soul und Funk.

      4. Bass. »More felt than heard, bass connects us to the entire spectrum of music and sonic experience.« Schrieb das »Wire«-Magazin mal in einer Titelgeschichte: »Low End Theories – ›Wire‹ responds to Bass«. Thin Lizzy mit Lynotts Bass kamen da nicht vor. Dabei stelle ich mir als Nichtmetalhead und Nichttänzer die Frage, die ansonsten bei Drum’n’Bass auftaucht: Tanze ich auf den Beat oder auf den Bass? Tatsächlich wäre »Live And Dangerous« eine Platte, auf die ich tanzen könnte, könnte ich tanzen.

LOVERBOYLoverboy Joachim Hiller

      [Columbia, 1980]

      In jener kleinen süddeutschen Stadt, in der ich die ersten 21 Jahre meines Lebens verbringen musste, richtete sich die »alternative« (post-) gymnasiale Jugend vorzugsweise in einer innennstädtischen Gaststätte – im Sommer mit Biergarten – zugrunde. Alkohol floss reichlich, Kräuter wurden nicht geduldet, war der »Gesellschaftsgarten«-Wirt doch ein Ex-Bulle und, wie geraunt wurde, in dieser Hinsicht wenig tolerant. Nichtsdestotrotz stand der »Gselle« bei meinen Eltern und Großeltern im Ruf, dass sich hier nur nichtsnutziges linkes Gesocks rumtrieb – logisch, dass ihr Sohn/Enkel da nichts zu suchen hatte. Logisch, dass ich mich hier vorzugsweise rumtrieb.

      Fast noch interessanter war allerdings der schmale Treppenaufgang links in der alten Villa. Schmierige alte Stufen führten hinauf in den ersten Stock des Gebäudes in ein nur freitags und samstags geöffnetes Etablissment namens »Wuwaff« (Google-Treffer für alle Schreibweisen Stand 08/2018: null). War der Aufenthalt im »Gselle« zwar geächtet, aber noch mit einem Augenzudrücken seitens der familiären Autoritäten gerade eben so akzeptabel, hörte der Spaß bei der angeblichen Drogenhölle ein Stockwerk drüber auf – beziehungsweise fing da erst an. Seit ich 16 war, zog es mich dort magisch hin, dabei warnten meinte Eltern mich doch eindringlich, mich dorthin zu wagen. Ein guter Bekannter aus deren Kirchengemeinde war Kripo-Bulle und auch mal bei der Drogenfahndung gewesen, und wenn ein Sodom und Gomorrha in dieser Stadt existierte, war es angeblich dieser kleine Diskothekenbetrieb.

      Sheriff hieß der DJ und sah auch so aus, schlank, drahtig, schwarz gekleidet – ein Kleinstadt-Nick-Cave mit exquisitem Musikgeschmack, kaum älter als wir und damit uralt. Hinter der Theke Vroni, Profi-Bedienung, die uns Milchgesichtern natürlich ansah, dass wir noch längst nicht alt genug waren, um hier legal unser bisschen Taschengeld zu vertrinken – zum Besaufen reichte die Kohle nicht. Und wenn wir uns von Punkt zehn bis irgendwann nach Mitternacht hier rumdrückten, auch mal zwei D-Mark in drei Flipperspiele investierten, war eh noch nichts los. Die Musik war schon damals, Mitte der Achtziger, gut abgehangen wirkende Rockmusik, etwas Punk und Wave und auch Black Music. Tina Turner, »Nutbush City Limits«, Tuxedomoon, »No Tears«, Ram Jam, »Black Betty«, Deep Purple, »April« – so Zeug eben. Und: Loverboy! »Turn Me Lose« ist der zweite Song des titellosen Debüt-Albums der kanadischen Band, die sich 1979 im kanadischen Calgary in Alberta gegründet hatte. Sobald das Synthie-Intro der 5:37-Nummer mit dem Schlagzeug-Geticke begann, stellten sich meine Nackenhaare auf, und dann die Gitarre von Paul Dean, waaaaaaaaaaaaaahhhh!!! Was für ein Gebrate! Und dann Mike Renos Gesang, Melodie und Geschrei und etwas Soul: »Turn me lose, I gotta do it my way, or no way at all«! Das war schon fast Punkrock!

      Klar, die Produktion ist clean, die Synthie-Effekte sind cheesy, die Background-Sängerinnen kein Stück Metal und maximal Rock, aber nicht hard – doch für mich waren Loverboy die Helden der Freitagabende, die Platte musste zwecks Gänsehautgefühl-Replikation im Jugendzimmer gekauft werden, genau wie der Nachfolger »Get Lucky« (1981), auf dem sich mit »Working For The Weekend« die zweite der beiden Loverboy-Hitgranaten befanden, die zudem perfekt zur Wochenendeinstimmung einer Zielgruppe geeignet war, die ich für mich später als die Stahlarbeiter-Clique im Filmmeisterwerk »Deerhunter« erkannte.

      Über 30 Jahre später sind Loverboy als Tonkonserve nur sehr partiell gut gealtert, ehrlich gesagt sind die meisten anderen Songs breiige Schlafmützennummern, die so klischeehaft daherkommen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ich mir das mal freiwillig angehört habe. Bis auf den 2000 verstorbenen Bassisten sind die verbliebenen vier Ur-Mitglieder von einer bösen Hexe mit einem Fluch belegt worden und müssen bis heute ihre beiden Hits spielen. Passt zu: roten Lederjeans, Fransenlederjacke, blonden Locken, Schnauzbart und Chevy Camaro.

AC/DCBack In Black Gerald Fricke

      [Atlantic, 1980]

      Die Legende von Bon Scott und seinem Heldentod (durch seine eigene Kotze) erfuhr ich auf Klassenfahrt zum Ski-Langlauf in den Harz. Wir fuhren mit einem grau-orangen Büssing, heute ein beliebter Museumsbus. Damals eine einzige vorpubertäre Hormonbombe. Der Harz ist ein majestätisches Mittelgebirge in Südost-Niedersachsen, in dem unsere Schule aus Braunschweig sogar eine eigene »Skihütte« unterhielt. 1981 sah es hier gewiss nicht sehr viel anders aus als 1951 oder 1971, wie uns unser kettenrauchender Sportlehrer erzählte, der auch schon eine Menge erlebt hatte. Wir fragten besser nicht nach.

      Ich saß im Bus neben Ecki. Eine große politische und musikalische Freundschaft kündigte sich an. Ecki rechnete mir vor, wie viel Zerstörungskraft eine einzige Bombe eines amerikanischen Atom-U-Boots besaß. Die Umrechnungsformel dazu war Hiroshima. Eine einzige Bombe entsprach fünfzigmal Hiroshima. Es war unvorstellbar. Ich hörte nicht mehr hin, denn ich beobachtete, dass die Mädchen dabei waren, den Busfahrer zu bezirzen, damit er seine Schlagerparade durch die mitgebrachte Kompaktkassette »ABBA Arrival« ersetzen möge. Natürlich hatten sie Erfolg. Im Bus setzte eine allgemeine Neckerei Mädchen gegen Jungen ein, ABBA gegen – AC/DC. Pop gegen Hardrock! Die Jungs hatten kein leichtes Spiel, der Busfahrer entschied, wie ein Busfahrer eben entscheidet. Wir Jungs hielten uns theatralisch die Ohren zu. Aber mein neuer Welterklärer Ecki hatte seinen eigenen Kassettenrekorder mitgenommen. Er sollte auch später IMMER einen dabei haben. Und »Back In Black«, im Jahr zuvor erschienen. Ich war sofort im Thema, im düsteren Glockengeläut


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