Staatshaftungsrecht. Michael Ahrens
Verweisungsprivileg nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB
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Nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ist eine Haftung des Amtswalters ausgeschlossen, wenn er nur fahrlässig gehandelt hat und der Geschädigte auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag. Diese sog. Subsidiaritätsklausel, auch Verweisungsprivileg genannt, schließt die Entstehung eines Amtshaftungsanspruchs aus.[126] Infolge dessen kann auch nichts auf den Staat nach Art. 34 GG übergeleitet werden.
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Die Subsidiaritätsklausel ist nur historisch zu erklären. Ursprünglich fungierte sie als Schutzbestimmung für den persönlich haftenden Beamten, der durch den Staat nicht entlastet wurde. Sie sollte eine drohende Haftung einschränken und so den Beamten nicht in seiner Entschlussfreude und Entscheidungskraft beeinträchtigen.[127] Durch die Haftungsüberleitung auf den Staat nach Art. 34 GG ist dieser Zweck für den Bereich des öffentlich-rechtlichen Verwaltungshandelns entfallen. Die Überleitung auf den Staat führt jetzt dazu, dass der Staat selbst in den Genuss der Subsidiaritätsklausel kommt und privilegiert wird. Die Rechtsprechung des BGH ist gleichwohl nicht soweit gegangen, die Subsidiaritätsklausel wegen Art. 34 GG generell nicht mehr anzuwenden, bzw. sie faktisch außer Kraft zu setzen. Die Streichung einer Rechtsnorm ist dem Gesetzgeber vorbehalten. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ist somit nach wie vor im Grundsatz anwendbar.[128]
Hinweis
Soweit keine Überleitung auf den Staat erfolgt, also der Beamte im privatrechtlichen Bereich handelt, hat § 839 Abs. 1 S. 2 BGB seinen Schutzzweck voll behalten.
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Auch wenn die Subsidiaritätsklausel weiterhin zu beachten ist, so ist ihr Anwendungsbereich doch sehr stark eingeschränkt.[129] Sie findet keine Anwendung,[130] wenn
• | sich die anderweitige Ersatzmöglichkeit als Anspruch wiederum gegen einen Verwaltungsträger richtet.[131] In diesen Fällen macht die Subsidiaritätsklausel keinen Sinn, da immer die öffentliche Hand für den Schaden einzustehen hat – Einheit des Staates; |
• | sich die anderweitige Ersatzmöglichkeit als gesetzliche oder private Versicherungsleistung darstellt.[132] Hier hat der durch die Amtspflichtverletzung Geschädigte den anderweitigen Anspruch durch eigene Leistungen erworben, die durch die Subsidiaritätsklausel jetzt nicht dem Staat zugute kommen sollen. Auch verfolgt die Versicherungsleistung nicht das Ziel, staatliches Unrecht auszugleichen; |
• | es sich um eine Lohnfortzahlung handelt,[133] da sie Ausdruck der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht ist; |
• | bei der dienstlich veranlassten Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr.[134] In diesen Fällen sind alle Verkehrsteilnehmer gleich zu behandeln und es besteht kein Raum für eine Besserstellung des Staates. Der Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung, abgeleitet aus Art. 3 Abs. 1 GG, verdrängt hier die Subsidiaritätsklausel.[135] Das gilt aber nicht, wenn die Dienstfahrt unter Inanspruchnahme von Sonderrechten – Warnlicht/Sirene – nach § 35 Abs. 1 u. 6 StVO erfolgt. Das betrifft den Einsatz der Polizei und der Feuerwehr sowie von Straßenreinigungs- und Müllfahrzeugen;[136] |
• | die als hoheitliche Aufgabe übertragene Straßenverkehrssicherungspflicht vgl. § 9a StrWG NRW; Art. 72 BayStrWG verletzt wird.[137] Auch hier wird der Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung herangezogen, da eine Nähe zum allgemeinen Straßenverkehr besteht. Die Straßenverkehrssicherungspflicht trifft zudem jeden, der eine Gefahrenlage geschaffen hat und verpflichtet ihn, drohende Schäden für Dritte abzuwenden. |
JURIQ-Klausurtipp
Die Subsidiaritätsklausel bleibt für Sie interessant in den Fällen,
• | wenn eine Dienstfahrt unter Gebrauch von Sonderrechten nach § 35 Abs. 1 u. 6 StVO erfolgt, |
• | auch im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr, |
• | wenn weitere Privatpersonen an dem Schadensfall beteiligt sind, an die sich der von der Amtspflichtverletzung betroffene Bürger halten kann und |
• | der Beamte privatrechtlich tätig wird und deshalb persönlich haftet. |
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Liegt kein Fall der Unanwendbarkeit der Subsidiaritätsklausel vor, gilt § 839 Abs. 1 S. 2 BGB unter der Voraussetzung, dass der Amtswalter fahrlässig gehandelt hat, eine anderweitige Ersatzmöglichkeit besteht und diese schließlich auch durchsetzbar ist.
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Die erste Voraussetzung ergibt sich als Ergebnis, wenn das Verschulden der Amtspflichtverletzung geprüft wird. Bei Vorsatz entfällt die Subsidiaritätsklausel.
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Das zweite Element erfasst grundsätzlich alle vertraglichen und gesetzlichen Leistungsverpflichtungen, die der von der Amtspflichtverletzung Geschädigte gegenüber einem Dritten geltend machen kann[138] und nicht unter die oben genannten Fälle der Unanwendbarkeit der Subsidiaritätsklausel fallen.
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Die dritte Bedingung ist erfüllt, wenn der anderweitige Ersatzanspruch in absehbarer Zeit in zumutbarer Weise tatsächlich durchgesetzt werden kann.[139] Die anderweitige Ersatzmöglichkeit scheitert z.B. wegen tatsächlicher bzw. rechtlich unklarer Rechtslage, Vermögenslosigkeit des Anspruchsgegners oder der Geschädigte die Voraussetzungen der anderweitigen Ersatzmöglichkeit nicht einschätzen kann.[140]
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Rechtfolge der Annahme der Subsidiaritätsklausel ist, dass ein Amtshaftungsanspruch entfällt. Es kommt auch nicht zu einem Wiederaufleben der Eigenhaftung des Amtswalters, da der Tatbestand des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB wegfällt und nicht nur die Haftungsüberleitung nach Art. 34 GG.
Beispiel
Die Ampelanlage in der Stadt K ist defekt und zeigt für alle Fahrtrichtungen grün. Die Polizei unterlässt es aufgrund eines Versehens, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen – z.B. die Ampelanlage abzuschalten, bzw. Regelung des Verkehrs durch Handzeichen von Polizisten an Ort und Stelle. Daraufhin kommt es zu einen Verkehrsunfall zwischen A und B. B muss zur Behebung der Unfallfolgen 10 000 € aufwenden. B möchte außer der Kfz-Haftpflichtversicherung des A auch vom Land L aus Amtshaftung Ersatz seines Schadens verlangen, da die Polizei untätig geblieben ist.
Die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs wegen der Untätigkeit der Polizei liegen vor. Problematisch ist, ob die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB eingreift.
Zunächst ist die Anwendbarkeit der Subsidiaritätsklausel zu klären. Hier liegt eine anderweitige Ersatzmöglichkeit vor, da B einen Anspruch gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung des A hat. Die Kfz-Haftpflichtversicherung des A hat den Zweck, den Schaden des B zu regulieren. Die Fallgruppe, die die Subsidiaritätsklausel im Falle von Versicherungsleistungen entfallen lässt, betrifft Leistungen aus einer privaten oder gesetzlichen Versicherung, die der von der Amtspflichtverletzung Geschädigte selbst hat. Diese Leistung soll nicht dazu dienen, Schäden aufzufangen, die außerhalb des Leistungsverhältnisses durch Andere verursacht worden sind. Das heißt vorliegend, B hat gegen seine eigene Versicherung einen Anspruch, der nicht den durch das Verhalten der Polizei mitverursachten