Staatshaftungsrecht. Michael Ahrens
Schuldverhältnisse.
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Die in der Bestimmung der Fahrlässigkeit zu erkennende Tendenz der Objektivierung des Sorgfaltsmaßstabes wird über die Grundsätze der Entindividualisierung und des Organisationsverschuldens erweitert.
Entindividualisierung heißt, dass der Name des verantwortlichen Amtswalters nicht konkret angegeben werden muss. Hierzu ist der geschädigte Bürger im Regelfall auch nicht in der Lage. Damit einher geht das Organisationsverschulden, wonach das Fehlverhalten des namentlich nicht bekannten verantwortlichen Amtswalters dem Verwaltungsträger zugerechnet wird.[106]
2. Sonderfall: Fehlerhafte Rechtsanwendung
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Vor dem Hintergrund der Objektivierung kann sich ein Amtswalter nicht auf mangelnde Rechtskenntnisse berufen. Mangelhafte Gesetzeskenntnis oder Unkenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist fahrlässig.[107]
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Anders ist die Lage, wenn ungeklärte Zweifelsfragen zu lösen sind, und der Amtswalter nach sorgfältiger Prüfung zu einem vertretbaren Ergebnis gelangt, selbst wenn es durch die nachfolgende Rechtsprechung nicht bestätigt und sich dadurch als falsch erweist.[108]
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Das Verhalten des amtspflichtwidrig handelnden Amtswalters stellt sich auch anders dar, wenn sein Verhalten durch ein Kollegialgericht als rechtmäßig beurteilt worden ist. Zur Begründung wird angeführt, dass ein einzelner Amtswalter nicht bessere Rechtskenntnis haben kann als ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht.[109] Diese Auffassung hat die Rechtsprechung mittlerweile dahin korrigiert, dass der Billigung des amtspflichtwidrigen Verhaltens durch ein Kollegialgericht nur noch die Funktion einer Richtlinie zukommt.[110] Insbesondere findet sie keine Anwendung, wenn das Kollegialgericht in einem Eilverfahren entschieden hat.[111] oder bei seiner Entscheidung von einem falschen Sachverhalt ausgegangen ist, bzw. wesentliche rechtliche Aspekte übersehen hat.[112]
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Die Literatur lehnt den Ansatz zum Teil grundsätzlich ab. Die Entschuldigung eines amtspflichtwidrigen Verhaltens über eine kollegialgerichtliche Entscheidung hat die merkwürdige Konsequenz, dass ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung von vorneherein aussichtslos ist.[113] Zu beachten ist zudem, dass die kollegialgerichtliche Entscheidung selbst rechtwidrig ist, wenn sie die Amtspflichtverletzung entschuldigt. Der geschädigte Bürger ist einer zweifachen Rechtswidrigkeit ausgesetzt und bleibt auf seinem Schaden sitzen.[114] Schließlich ist zu sehen, dass die kollegialgerichtliche Entscheidung als Entschuldigungsgrund für die Amtspflichtverletzung eine Ausnahme im Anwendungsbereich des § 839 BGB darstellt. Sie kann deshalb auch mit Blick auf Art. 20 Abs. 3 GG als unzulässige gesetzeskorrigierende richterliche Rechtsfortbildung angesehen werden.[115]
JURIQ-Klausurtipp
Aufgrund der starken Einschränkung der Bedeutung, die eine kollegialrichterliche Entscheidung als Entschuldigungsgrund für eine Amtspflichtverletzung nunmehr hat, wird von Ihnen an diesem Punkt keine vertiefte Kenntnis erwartet. Im Ergebnis lehnen Sie sie ab und verweisen dabei auf die Rechtsprechung, die selbst nur noch von einer Leitlinie spricht. Das Verschulden des Amtswalters ist dann zu erörtern.
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Ebenfalls vor dem Hintergrund der Objektivierung ist das amtspflichtwidrige Verhalten von Mitgliedern in kommunalen Vertretungskörperschaften, z.B. Gemeinderatsmitgliedern, zu beurteilen.
Zum einen ist der Geschädigte nicht verpflichtet, die Gemeinderatsmitglieder namentlich zu benennen, die für einen amtspflichtswidrigen Ratsbeschluss, z.B. Bebauungsplan, gestimmt haben. Zum anderen gilt kein milderer Sorgfaltsmaßstab. Der Einwand, Gemeinderatsmitglieder seien häufig keine Juristen und entschieden nach laienhaftem Ermessen, greift nicht durch. Fehlt eine notwendige Sachkunde für eine Entscheidung, so müssen die Gemeinderatsmitglieder sich zuvor von der Verwaltung oder auch von externen Sachverständigen beraten lassen.[116] Andernfalls wird das Schadensrisiko in unzumutbarer Weise auf den geschädigten Bürger verlagert.[117]
2. Teil Amtshaftung, § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG › B. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen › VI. Kausaler Schaden
VI. Kausaler Schaden
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Die Amtspflichtverletzung muss für den eingetreten Schaden ursächlich gewesen sein.
Ein Schaden ist jeder Nachteil, der an den Rechtsgüter des von der Amtspflichtverletzung betroffenen Bürgers eintritt. Das Kausalitätserfordernis ergibt sich aus § 839 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB mit dem Wort „daraus“. Die Ursächlichkeit der Amtspflichtverletzung für den Schaden wird danach bestimmt, welchen Verlauf die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten des Amtswalters genommen hätten und wie sich dann die Vermögenslage bei dem betroffenen Bürger dargestellt hätte.[118]
Im Baurecht ist die Besonderheit zu beachten, dass ein Verpflichtungsurteil zur Erteilung einer Baugenehmigung, das nicht umgesetzt wird, keinen kausalen Schaden zur Folge hat, wenn nach dem Verpflichtungsurteil der Bebauungsplan oder der Flächennutzungsplan zu Lasten des Bauwilligen geändert werden.[119] Nur die bereits erteilte Baugenehmigung schützt vor Rechtsänderungen, ansonsten geht die Planungshoheit der Gemeinde vor.[120]
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Schwierigkeiten, die Kausalität festzustellen, können sich bei Verfahrensfehlern ergeben. Die Ursächlichkeit ist zu verneinen, wenn auch bei Beachtung der Verfahrensvorschriften im Ergebnis die gleiche Entscheidung hätte getroffen werden müssen – rechtmäßiges Alternativverhalten.[121] Dieses Ergebnis lässt sich auch mit Blick auf § 46 VwVfG rechtfertigen.[122]
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Bei Ermessensfehlern ist der Amtspflichtverstoß nur dann für den Schaden kausal, wenn er bei ermessensfehlerfreier Entscheidung nicht entstanden wäre. Dies ist eindeutig, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist. Besteht hingegen ein Ermessensspielraum, ist die Kausalität nur anzunehmen, wenn die Behörde den Schaden bei zutreffender Ermessensausübung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht verursacht hätte.[123]
Entsprechendes gilt für Amtspflichtverletzungen bei Unterlassen.[124]
JURIQ-Klausurtipp
Da bei Ermessensentscheidungen, soweit keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, für die Annahme einer Kausalität sehr strenge Maßstäbe anzulegen sind, gilt für Sie, dass bei Ermessensentscheidungen grundsätzlich keine Kausalität zum Schaden gegeben ist.
2. Teil Amtshaftung, § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG › B. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen › VII. Haftungsausschluss und -beschränkungen
VII. Haftungsausschluss und -beschränkungen
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Wenn die Voraussetzungen für einen Amtshaftungsanspruch vorliegen, ist zu prüfen, ob der Anspruch beschränkt bzw. ausgeschlossen ist. Nicht gemeint ist an dieser Stelle der grundsätzliche Ausschluss einer auf den Staat übergeleiteten Amtshaftung durch andere Normen, die ihn verdrängen.[125] Hier geht es nur um die Begrenzungen, die sich aus § 839 BGB selbst