Staatshaftungsrecht. Michael Ahrens
Ordnungsverfügung gegenüber einem Bürger. Der Bürger erleidet dadurch einen Schaden und macht nun einen Amtshaftungsanspruch geltend.
Der Oberbürgermeister handelt zwar im Außenverhältnis zum Bürger rechtswidrig, aber im Innenverhältnis weisungsgemäß und damit amtspflichtgemäß. Der Regierungspräsident dagegen hat eine Amtspflichtverletzung begangen, da er eine rechtswidrige Weisung erteilt hat. Ihm wird im Wege der Haftungsverschiebung das Verhalten des Oberbürgermeisters zugerechnet. Der Amtshaftungsanspruch richtet sich dann gegen den Regierungspräsidenten und wird übergeleitet auf das Land. Im Gegensatz dazu würde ein Amtshaftungsanspruch gegen den Oberbürgermeister auf die Gemeinde/Stadt übergehen.
Damit wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Amtspflichten im Innenverhältnis und Rechtspflichten im Außenverhältnis praktische Konsequenzen haben kann.
Davon unabhängig richtet sich die Anfechtungsklage gegen die Ordnungsverfügung selbst gegen den Oberbürgermeister, soweit § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO eingreift, ansonsten gegen die Gemeinde/Stadt nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO.[56]
Entsprechendes gilt, wenn der Erlass eines Verwaltungsaktes von der Zustimmung bzw. dem Einvernehmen einer anderen Behörde oder eines anderen Verwaltungsträgers abhängt, sog. mehrstufiger Verwaltungsakt. Beispiel ist hierfür § 36 BauGB.[57]
Im umgekehrten Fall, dass der Amtswalter im Innenverhältnis gegen eine innerdienstliche Weisung bzw. Verwaltungsvorschrift verstößt, aber im Außenverhältnis gegenüber dem Bürger rechtmäßig handelt, liegt ebenfalls eine Amtspflichtverletzung vor, wenn auch nur im Innenverhältnis. In diesem Fall muss im Außenverhältnis zum Bürger, der keine Rechtsverletzung erlitten hat, eine objektive Widerrechtlichkeit als Merkmal hinzugenommen werden, um unsinnige Ergebnisse zu vermeiden.[58]
Beispiel 2
Wie im Beispiel 1 zuvor, nur weigert sich der Oberbürgermeister, die Weisung des Regierungspräsidenten der Bezirksregierung/Regierungspräsidiums umzusetzen. Der Oberbürgermeister erlässt eine rechtmäßige Ordnungsverfügung, durch die der Bürger gleichwohl einen Nachteil/Belastung erleidet. Diese Belastung macht der Bürger nun als Schaden über einen Amtshaftungsanspruch unter Berufung auf den Verstoß gegen die Weisung des Regierungspräsidenten geltend.
Hier liegt in der Missachtung der Weisung des Regierungspräsidenten im Innenverhältnis eine Amtspflichtverletzung vor, nicht jedoch eine Rechtsverletzung im Außenverhältnis zum Bürger, da ihm gegenüber im Einklang mit der Rechtsordnung gehandelt wurde. Um vorliegend einen Amtshaftungsanspruch annehmen zu können, muss aber eine Rechtsverletzung und nicht nur ein Nachteil/Belastung beim Bürger hinzutreten. Nur unter dieser Voraussetzung ist das Verhalten des Oberbürgermeisters auch als objektiv widerrechtlich anzusehen und damit als unrechtmäßig. Vorliegend fehlt es daran, da die Ordnungsverfügung, trotz Verletzung der Amtspflicht im Innenverhältnis, im Außenverhältnis zum Bürger objektiv rechtmäßig ist.
Ein Amtshaftungsanspruch des Bürgers besteht deshalb nicht.
Hinweis
Zu Ihrer Beruhigung: Die Unterscheidung zwischen Amtspflicht im Innenverhältnis und Rechtspflicht im Außenverhältnis spielt nur im dargestellten Sonderfall eine Rolle. Zur Lösung des Sonderfalles merken Sie sich bitte die Begriffe Haftungsverschiebung bzw. objektive Widerrechtlichkeit. Mithilfe dieser beiden Begriffe löst die h.M. diesen Fall. Folgen Sie hingegen der abweichenden Ansicht von Papier,[59] müssen Sie sich mit dem Wortlautargument und der historischen Konstruktion der Amtshandlung auseinandersetzen. Im Ergebnis sollten Sie aber die Ansicht von Papier ablehnen.
42
Der Sonderfall einer Weisung bzw. Verwaltungsvorschrift ist einerseits abzugrenzen gegenüber Erlassen, die der nachgeordneten Verwaltung allgemein eine bestimmte Gesetzesauslegung vorschreiben. Sie begründen regelmäßig keine Amtspflicht gegenüber dem einzelnen Bürger, wenn unbestimmt viele Sachverhalte geordnet werden. Erlasse mit allgemeiner Wirkung sind gerade keine Weisungen und begründen keine Amtspflichten.[60]
5. Sonderfall: Rechtswidriger, bestandskräftiger Verwaltungsakt
43
Schwierig ist schließlich der Fall, dass ein bestandskräftiger rechtswidriger, aber nicht nichtiger[61] Verwaltungsakt eine Amtspflichtverletzung begründen kann. Eine andere Frage ist, ob eine derartige Amtspflichtverletzung in einem Gerichtsverfahren durch die Überprüfung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes festgestellt werden kann.
44
Die Bestandskraft des Verwaltungsaktes hat seine Unanfechtbarkeit zur Folge, selbst wenn er rechtswidrig ist. Er ist vom Adressaten dann schlicht hinzunehmen. Die Regelung eines solchen Verwaltungsaktes ist ebenso von allen staatlichen Organen – Behörden und Gerichten – zu beachten. Er ist ihren Entscheidungen als gegebener Tatbestand zugrunde zu legen.[62]
Zugleich stellt die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes eine Amtspflichtverletzung dar, wird doch gegen die Pflicht zu rechtmäßigem Handeln verstoßen.
Die Konsequenz ist, dass ab Eintritt der Bestandskraft eine an sich gegebene Amtspflichtverletzung nicht mehr geltend gemacht werden kann.[63] Es stehen sich mithin das Prinzip der Bestandskraft als Ausdruck der Rechtssicherheit, abgeleitet aus Art. 20 Abs. 3 GG, und das Prinzip der inhaltlichen Richtigkeit, ebenfalls aus Art. 20 Abs. 3 GG folgend, gegenüber.
45
Dieses Problem ist durch eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Verfahrensgegenstände zu lösen. Im Verwaltungsverfahren geht es um die Regelung einer öffentlich-rechtlichen Angelegenheit, die einer verbindlichen Lösung bedarf und von allen ab einem bestimmten Zeitpunkt zu beachten ist. Bei der Frage nach einer Amtshandlung geht es hingegen nur darum, ob die getroffene Regelung die Rechtsordnung wahrt. Ist das nicht der Fall, so ist allein im Verhältnis Staat – Bürger die Frage nach einer Amtshaftung und einer Schadensregulierung zu klären.
Die beiden Bereiche – die Entscheidung des Verwaltungsaktes einerseits und ihr Zustandekommen andererseits – sind zu trennen.
46
Um einen Amtshaftungsanspruch zu klären, ist deshalb auch ein bestandskräftiger Verwaltungsakt inzident bei der Amtspflichtverletzung voll zu überprüfen. Zwei Argumente lassen sich hierfür anführen. Zum einen bewirkt die bloß durch Zeitablauf eingetretene Bestandskraft nicht das gleiche Maß an Richtigkeitsgewähr wie eine gerichtliche Kontrolle.[64] Zum anderen sieht § 839 Abs. 3 BGB einen Ausschluss der Amtshaftung vor, wenn schuldhaft ein Rechtsmittel gegen die amtspflichtwidrige Entscheidung versäumt wurde. Diese Vorschrift wird unterlaufen, wenn auch im Fall der nicht schuldhaften Versäumung eines Rechtsmittels gleichwohl wegen der Bestandskraft des Verwaltungsaktes eine Amtshaftung im Ergebnis ausscheidet.[65]
47
Anders liegt die Sache nur, wenn über den Verwaltungsakt bereits eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ergangen ist. Dabei muss es sich um ein Sachurteil handeln. Ein Prozessurteil – Klageabweisung wegen Unzulässigkeit der Klage – reicht nicht aus, da eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Verwaltungsakt fehlt. Gleiches gilt auch, wenn nur eine Eilentscheidung vorliegt, da sie keine materielle Rechtskraft wie ein Urteil in der Hauptsache erlangt.[66] Im Fall eines Sachurteils greifen die eben genannten Argumente für eine volle Überprüfung des Verwaltungsaktes nicht. Vielmehr umfasst die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auch die Feststellung einer Amtspflichtverletzung. Stellt das Urteil fest, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war, so liegt zugleich eine Amtspflichtverletzung vor. Stellt es fest, dass der Verwaltungsakt rechtmäßig war, so ist eine Amtspflichtverletzung nicht gegeben.[67]
JURIQ-Klausurtipp