Sachenrecht III. Ralph Westerhoff
Zwei Probleme aus dem Bereich der Anfechtung möchte ich Ihnen im Zusammenhang mit der Abgabe einer Bürgschaftserklärung erläutern:
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Ein Bürge könnte auf folgenden Gedanken kommen: Er habe die Bürgschaft für den Schuldner nur deswegen übernommen, weil er aufgrund des üppigen Lebensstils des Schuldners von einem hohen Vermögen und entsprechenden Einkünften ausgegangen sei. Jetzt muss er feststellen, dass dem nicht so ist. Er befand sich also zum Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung in einem Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person. Deshalb fechte er jetzt den Bürgschaftsvertrag nach § 119 Abs. 2 an.
Die Leistungsfähigkeit des Hauptschuldners ist ohne Frage eine verkehrswesentliche Eigenschaft. Und doch: Eine Anfechtung wegen dieses Irrtums ist hier ausgeschlossen. Es ist geradewegs das Wesen des Bürgschaftsvertrages, dass der Bürge das Risiko und damit die Ungewissheit über die Leistungsfähigkeit des Schuldners übernimmt.[23] Eine andere Lösung schlägt Medicus[24] vor: Zwar könne der Bürge anfechten und der Vertrag sei nichtig. Dann aber schulde der Bürge dem Gläubiger die Schadloshaltung aus § 122.
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Eine weitere Möglichkeit, sich durch Anfechtung von einer Bürgschaft wieder zu befreien, könnte in § 123 liegen. Häufig dürften Schuldner ihren potenziellen Bürgen nicht alles offenbaren, im Zweifel sogar ihre Vermögensverhältnisse „schönen“. In diesen Fällen könnte eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung in Betracht kommen.
Aber Vorsicht! Der Vertrag kommt zwischen Bürgen und Gläubiger zustande. § 123 Abs. 2 sagt ausdrücklich, dass dann, wenn ein Dritter die Täuschung verübt, der Vertragspartner nur dann die Anfechtung hinzunehmen hat, wenn er die Täuschung kannte oder kennen musste.[25] Dies wird bisweilen auch Lagertheorie genannt.
Zwar ist nicht jeder außer dem Erklärungsempfänger Dritter im Sinne des § 123 Abs. 2. So ist z.B. der Vertreter des Erklärungsempfängers (in unserem Fall des Gläubigers) nicht Dritter. Aber die herrschende Meinung geht noch weiter: Dritter ist nicht, wer Vertrauensperson des Erklärungsempfängers ist.[26]
Wenn man den Hauptschuldner als Vertrauensperson des Gläubigers ansieht, wäre dieser nicht Dritter und die Täuschung des Bürgen würde als Täuschung des Gläubigers gelten mit der Folge, dass der Bürge den Vertrag anfechten könnte.
Wie Medicus[27] dazu aber treffend feststellt: „Das geht zu weit.“ Schuldner und Gläubiger eines Darlehens sind keine Vertrauenspersonen, sondern stehen geradezu typisch auf verschiedenen Seiten. Und wenn der Hauptschuldner einen Bürgen sucht, nimmt er eigene Interessen wahr und nicht die Interessen des Gläubigers. Denn ohne Bürgen gäbe es den vom Hauptschuldner gewünschten Kredit eben nicht.
b) Die Sittenwidrigkeit von Bürgschaftsverträgen
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aa) Überblick
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Ein heftig diskutiertes Problem ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Bürgschaftsvertrag gemäß § 138 Abs. 1[28] nichtig ist. Hintergrund der hierzu ergangenen Rechtsprechung[29] ist die (zumindest bis zu dieser Rechtsprechung) übliche Bankpraxis bei der Vergabe von Krediten, insbesondere an selbstständige Unternehmer, immer auch den Ehepartner des Kreditnehmers und oft auch seine Kinder als Bürgen mit in die Haftung zu nehmen. Dabei nimmt der Gläubiger (Kreditgeber) in Kauf, dass diese die Bürgschaft nur aus der Zwangslage (entweder Bürgschaft oder eben keinen Kredit) heraus wegen der besonderen emotionalen Bindung zum Schuldner übernehmen und (gerade bei jungen Erwachsenen) die Folgen der eingegangenen Verpflichtung nicht überblicken können.
Beispiel
U betreibt einen Autohandel und ist in das Händlernetz des Herstellers X eingebunden. X verlangt von U, dass er seine Verkaufsräume grundlegend umgestaltet und renoviert. Würde er das nicht tun, würde X den Händlervertrag kündigen. U beantragt bei seiner Hausbank einen Kredit über 2 Mio. €. Die jährliche Zinslast beträgt 160 000 €. Die Bank ist bereit, den Kredit zu gewähren, verlangt aber, dass Us Ehefrau F, die als Krankenschwester arbeitet, eine Bürgschaft unterzeichnet. F, die ihren Mann liebt und nicht mit ansehen möchte, wie die Existenz der Familie zerstört wird, unterschreibt. Als U im Zuge der Wirtschaftskrise dennoch in die Insolvenz gerät, nimmt die Bank F in Anspruch.
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Zwar bedeutet Privatautonomie auch Selbstverantwortung.[30] Drastisch gesagt: Der Staat hindert grundsätzlich niemanden daran, sich selbst zu ruinieren.
Die Grenze zur Sittenwidrigkeit ist aber dann überschritten, wenn der Bürgschaftsvertrag Ausdruck einer strukturellen Unterlegenheit des Bürgen ist und für ihn eine nicht hinnehmbare, mit seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen unvereinbare, finanziell krass überfordernde Belastung begründet.[31]
Sittenwidrigkeit der Bürgschaft nach § 138 Abs. 1
I.Besondere Nähebeziehung zwischen Bürgen und Hauptschuldner?
Bürgschaft des Arbeitnehmers oder von GeschwisternRn. 66
II.Krasse finanzielle Überforderung?
III.Kein eigenes wirtschaftliches Interesse?
IV.Kenntnis des Gläubigers?
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JURIQ-Klausurtipp
Bei Sachverhalten, die Anlass zur Problematisierung der Sittenwidrigkeit des Bürgschaftsvertrages geben, gehen Sie wie folgt vor:
Sie werfen die Frage auf, ob der Bürgschaftsvertrag gemäß § 138 Abs. 1 nichtig sein könnte, und formulieren dies zum Beispiel wie folgt:
„Der Bürgschaftsvertrag könnte aber wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 nichtig sein. Dazu müsste er gegen die guten Sitten verstoßen. Ein Rechtsgeschäft verstößt dann gegen die guten Sitten, wenn es mit dem Anstandsgefühl aller billig und recht Denkenden nicht vereinbar ist.[32]
Dies könnte hier fraglich sein, weil der Schuldner bei Abschluss des Bürgschaftsvertrages voll geschäftsfähig und grundsätzlich jeder für die Folgen seines geschäftlichen Handelns selbst verantwortlich ist. Vorliegend muss aber die persönliche Nähe zum Hauptschuldner sowie das strukturelle Ungleichgewicht zwischen der Bank und dem Bürgen berücksichtigt werden. Die Grenze zur Sittenwidrigkeit ist dann überschritten, wenn der Bürgschaftsvertrag Ausdruck einer strukturellen Unterlegenheit des Bürgen ist und für ihn eine nicht hinnehmbare, mit seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen unvereinbare Belastung begründen.“
Dann prüfen Sie die Voraussetzungen gemäß obigem (Rn.