Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
Wissenschaftliche Auseinandersetzungen können schon per definitionem nicht Gegenstand eines Kollegialitätsverstoßes sein.[323] Das Gleiche gilt auch dann, wenn der Arzt sich in der Öffentlichkeit an der Diskussion allgemeinpolitischer Themen beteiligt, auch wenn sie einen Bezug zum Gesundheitswesen aufweisen.[324] Eine Einschränkung der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit ist nur zum Schutze übergeordneter Interessen des Gemeinwohls zulässig; das Kollegialitätsgebot darf daher in einem demokratischen Rechtsstaat freiheitlicher Prägung nicht als „Maulkorb“ missbraucht werden.[325]
219
Die Grenze zu unkollegialem Verhalten ist aber dort überschritten, wo ein Arzt die Behandlungsweise eines anderen Kollegen ohne sachlichen Grund abfällig beurteilt und gleichzeitig seine eigene Behandlungsmethode quasi anpreisend hervorhebt. Das Berufsrecht geht dabei über die zivilrechtlichen Grundsätze zu Widerrufs- und Unterlassungsansprüchen ehrverletzender Äußerungen hinaus. Nach der Rechtsprechung[326] besteht ein Anspruch auf Widerruf bzw. Unterlassung ehrverletzender Äußerungen dann nicht, wenn diese Behauptungen im engen Familienkreis oder im Anwaltsgespräch bzw. im Arzt-Patienten-Verhältnis gefallen ist. Würden sie in diesem engen Vertrauensverhältnis fallen, bestehe kein berechtigtes Interesse daran, Wahrheit oder Unwahrheit in einem Gerichtsverfahren klären zu lassen. Allerdings sind derartige Äußerungen nur in diesen besonders geschützten Vertrauensverhältnissen privilegiert. Fallen sie außerhalb, d.h. im Kreis von Klinikmitarbeitern, kommt es nicht darauf an, ob sie in „kleinem“ oder „großem“ Kreis gefallen sind. Beschuldigungen unter vier Augen oder in einem kleinen Kreis sachlich Interessierter können u.U. nachhaltiger beeinträchtigen als öffentliche Kritik, von der der Betroffene schneller Kenntnis erlangt und ihr deshalb auch eher entgegentreten kann.[327] Im Übrigen sollte man nicht vergessen, dass manch unbedacht geäußerter Vorwurf Anlass zu Behandlungsfehlerprozessen gibt, die zwar letztlich ohne befriedigendes Ergebnis für den Patienten enden, alle Beteiligten aber unnötig belasten.
220
Bei der Information darüber, dass die bisherige Gemeinschaftspraxis aufgelöst ist und künftig getrennte Praxen geführt werden, müssen Werbung für die eigene Praxis und kritische Bemerkungen über die Praxis des bisherigen Partners vermieden werden.[328] Demgegenüber befand das LG München I,[329] einem Arzt dürfe nicht verwehrt werden, seine in laufender Behandlung befindlichen Patienten auf seine neue Praxis hinzuweisen, damit dort ggf. die Behandlung fortgesetzt werden könne. Der Patient habe sogar einen durchsetzbaren Informationsanspruch, der durch ein Wettbewerbsverbot nicht eingeschränkt werden dürfe. Für eine Mandantenschutzklausel bei Zahlung einer Abfindung hat der BGH im Falle einer Rechtsanwaltskanzlei den gegenteiligen Standpunkt vertreten.[330]
221
Für Ärztekammern tätige Ärzte verlieren den Anspruch auf Kollegialität und gegenseitige Respektierung nicht durch ihre Funktionärstätigkeit.[331] Allerdings kann je nach berufspolitischer Situation ein etwas anderer Maßstab angelegt werden.[332] Im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen ist dem Arzt unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine auch zum Teil deutliche Sprache zuzubilligen. Der Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG umfasst auch polemische Äußerungen gegen Mitglieder der Kammerorgane, wenn sie in einem aktuellen berufspolitischen Streit fallen und von der Aussage her das Maß möglicher Kritik nicht überschreiten. Das Standesrecht darf nicht zur Disziplinierung unliebsamer Kritiker herhalten.[333]
gg) Verpflichtung zur Weiterbildung
222
Die Weiterbildung[334] ist eines der zentralen Aufgabengebiete der Kammern. Sie ist Ausdruck des Anspruchs der Selbstverwaltung, Inhalt, Grenzen und Struktur ärztlicher Tätigkeit in eigener Verantwortung zu regeln. Zwar gilt nach wie vor der Grundsatz, dass die Approbation den Arzt zur Ausübung der gesamten Heilkunde berechtigt; durch die umfangreichen Regelungen der (Muster-)Weiterbildungsordnung (M-WBO) wird aber deutlich, dass die Kammern den weitergebildeten Arzt als den „Regelfall“ betrachten.[335] Anders als die Ausbildung zum Arzt ist die Weiterbildung zum Facharzt weitgehend „privatisiert“, d.h. ihre Durchführung wird einem Weiterbilder übertragen, der sie, zwar unter Beachtung der öffentlich-rechtlichen M-WBO, in eigener Verantwortung im Hinblick auf den täglichen Arbeitsablauf gestaltet. Formal betrachtet findet Weiterbildung in Universitäten kraft Gesetzes und in sonstigen Weiterbildungsstätten aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Zulassung statt.[336] § 29 Abs. 5 MBO erinnert den Weiterbilder jedoch, dass Weiterbildung nicht nur im „learning by doing“ besteht, sondern auch eine aktive Anleitung, Führung und intellektuelle Vermittlung beinhaltet, die über die Instruktion eines beliebigen Arbeitnehmers hinausgeht. Rechtsgrundlage für die M-WBO sind die Heilberufe-Kammergesetze. Inhalte und Struktur der Weiterbildung in den einzelnen Gebieten sind jedoch stark europäisch geprägt. Nur wenn das nationale Weiterbildungsrecht die Vorgaben der einschlägigen EG-Richtlinien beachtet, ist die Migrationsfähigkeit innerhalb der EU gewährleistet.[337] Eine außerhalb der EU bzw. des EWR abgeleistete Weiterbildung kann nur anerkannt werden, wenn sie dem deutschen Weiterbildungsrecht entspricht[338] oder von einem anderen Mitgliedsstaat der EU anerkannt worden ist.[339]
223
Angesichts steigender Arztzahlen wird es immer schwieriger, Inhalte der Weiterbildung, insbesondere mit Zahlen versehene Auflagen (z.B. OP-Kataloge), in angemessener Zeit zu erfüllen. Dem stand bislang das Bestreben des weiterzubildenden Arztes gegenüber, den Katalog der einzelnen Leistungen innerhalb der Mindestzeit zu erfüllen. Dies ist angesichts einer sich verändernden Kliniklandschaft und erhöhter Anforderungen sehr oft nicht möglich. Nachdem Arbeitsverträge mit Weiterbildungsassistenten im Krankenhaus in aller Regel und zulässigerweise befristet sind,[340] werden arbeitsrechtliche Fragen aufgeworfen, wenn dem Assistenten bis zum Stichtag noch einige Operationen fehlen, der Klinikträger aber nicht bereit ist, ein erneutes befristetes Arbeitsverhältnis einzugehen. Nach der Rechtsprechung des BAG[341] kann der angestellte Arzt alleine deswegen keine Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses verlangen; vielmehr sei es alleinige Aufgabe der Kammern, bzw. der von ihr ermächtigten Weiterbilder, für einen zeitgerechten Abschluss der Weiterbildung Sorge zu tragen. Der Klinikträger als Arbeitgeber habe lediglich Maßnahmen zu unterlassen, die die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Weiterbildung unzumutbar beeinträchtigen. Ansprüche könne der Assistent daher nur gegen die Kammer bzw. den Weiterbilder erheben. Erhält die Kammer Kenntnis von einem diesbezüglichen Missstand, kann sie gegen den Weiterbilder berufsrechtlich vorgehen und ihm die Weiterbildungsermächtigung entziehen. Für den Weiterbilder kann dies u.U. arbeitsrechtliche Konsequenzen haben. Der Assistent könnte aber auch gegen den Weiterbilder vor dem Verwaltungsgericht wegen des öffentlich-rechtlichen Charakters der Weiterbildung klagen. Hält der Weiterbilder den Arzt hingegen für die beanspruchte Tätigkeit nicht für geeignet, bzw. würde sein Einsatz ein unbeherrschbares Risiko für den Patienten mit sich bringen, geht die Sicherheit des Patienten vor. Eine gute Weiterbildung hat schließlich auch das Ziel, einem Aspiranten rechtzeitig zu verdeutlichen, welche Anforderungen in einem bestimmten Gebiet gestellt werden.
224
Die Pflichten des Weiterbilders sind im Einzelnen in der M-WBO dezidiert aufgeführt. Neben der hier behandelten Förderungspflicht muss der Weiterbilder zunächst die für ihn geltende WO kennen, um den Weiterzubildenden rechtzeitig auf Umstände aufmerksam zu machen, die seiner Weiterbildung abträglich sind. So hat er z.B. darauf hinzuweisen, wenn seine Ermächtigung eine bestimmte Tätigkeit nicht erfasst.[342] Dies gilt insbesondere, nachdem die M-WBO in eine Regelweiterbildung und Schwerpunkte umstrukturiert wurde. So sind in den Schwerpunkten Inhalte definiert, die nicht Pflichtbestandteil der Regelweiterbildung sind. Da der Weiterbilder im Rahmen seiner Weiterbildung weisungsfrei sein muss, darf der Weiterbilder in einem Schwerpunkt nicht den Weisungen eines Weiterbilders in der Regelweiterbildung unterworfen sein.[343] Will der Weiterzubildende seine Weiterbildung im Rahmen des Zulässigen in Teilzeit absolvieren (z.B. § 4 Abs. 5 BayWO), muss ihn der Weiterbilder darauf aufmerksam machen, dass zuvor eine entsprechende Genehmigung der zuständigen LÄK eingeholt wird.[344]