Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
oder als Rehabilitationsleistung erbracht werden kann.
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Die Normkonkretisierung bei Inanspruchnahme mit leistungsgewährender Entscheidung setzt dabei aber voraus, dass der Vertragsarzt oder Krankenhausarzt die leistungsbestimmenden gesetzlichen Voraussetzungen und untergesetzlichen Normen und Richtlinien bis hin zu den krankheitsbezogenen Leitlinien[23] in seiner Entscheidung berücksichtigt. Die Normkonkretisierung mit der Folge eines hierauf gerichteten Anspruchs des Versicherten setzt die Beachtung der Grundprinzipien der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit, Wirksamkeit und Qualität voraus. Dies alles stellt einen in der Entscheidungssituation des Arztes hoch komplexen und ex post praktisch nicht mehr reproduzierbare Vorgang dar.[24] Deshalb ist auf eine besondere Sorgfalt bei der Dokumentation der diagnostischen Verfahren und Ergebnisse zu achten. Sie muss einer Überprüfung z.B. des Medizinischen Dienstes (ehemals Medizinischer Dienst der Krankenkassen, MDK) standhalten können.
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Die Rechtsgrundlage für den Umfang der von der Kasse geschuldeten Krankenbehandlung regelt § 27 Abs. 1 SGB V.[25] In der Konkretisierungsentscheidung des Vertragsarztes oder Krankenhausarztes verwirklicht sich gleichzeitig dessen ärztliche Therapiefreiheit.[26] Die durch den Großen Senat des BSG[27] betonte volle objektive Überprüfbarkeit der Entscheidung des Arztes wird aber unter Bezug auf den subjektiv vorhandenen und geforderten Kenntnisstand des behandelnden Arztes wieder relativiert und in der Folgerechtsprechung dann konkretisiert.[28] Der behandelnde Vertragsarzt als Leistungserbringer bleibt eine zentrale Schlüsselfigur in der Normkonkretisierung auch wenn er nicht als Beauftragter der Krankenkassen zu verstehen ist.[29] Dies bedeutet aber nicht, dass die Leistungserbringer im Sinne öffentlich-rechtlicher Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten entscheiden, sondern dass sie – als Leistungsverpflichtete gegenüber den Versicherten, d.h. als ein Element des Sicherstellungssystems – den Leistungsanspruch des Versicherten durch Behandlung oder Verordnung konkretisieren. Der Arzt entscheidet nicht über das „Ob“, d.h. das Bestehen eines Behandlungsanspruches, sondern stellt diesen lediglich fest und dokumentiert das Vorhandensein eines Leistungsanspruchs. Es bedarf keiner vorangehenden Entscheidung und keiner nachträglichen Genehmigung der Krankenkasse.[30] Die grundsätzlich der Krankenkasse obliegende Entscheidung über den Anspruch des Patienten kann nicht beigebracht werden. Ihre Entscheidungsmacht beschränkt sich dementsprechend auf die nachträgliche Überprüfung der Erforderlichkeit.[31] Das BVerfG[32] hatte demgegenüber ausdrücklich das Recht des Vertragsarztes betont, die Leistungsverpflichtung der Krankenkasse im Einzelfall gegenüber dem Patienten zu konkretisieren. Dem Arzt komme dabei nicht nur die Feststellung des Eintrittes des Versicherungsfalles der Krankheit zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Entscheidung und Überwachung, wie der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des § 299 StGB auf Ärzte festgestellt hat.[33] Die bestimmende selbstständige Stellung des Arztes im Rahmen der Leistungskonkretisierung ist zu betonen.[34]
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Steigende bürokratische Erfordernisse, Honorierungsrisiken und Regressforderungen lassen befürchten, dass die Therapiefreiheit zunehmend zu einem wirkungslosen Postulat verkommt. Die Spannung zwischen Leistungsbegrenzung einerseits und Haftungs- und Regressrisiken andererseits wächst.
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Die gesetzlich krankenversicherten Patienten haben nur bei Feststellung der Behandlungs- oder Verordnungsbedürftigkeit einen Rechtsanspruch auf diese Dienst- und Sachleistungen. Dies ist die leistungsrechtliche Seite des als Dreiecksverhältnis ausgestalteten Sachleistungsanspruchs (siehe oben Rn. 74 ff.).
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Der Vertragsarzt oder das Krankenhaus, welches dieser Verpflichtung zuwiderhandelt, steht unter Regress- und Schadensersatzandrohung der Krankenkassen bzw. ihrer Patienten. Vertragsarzt und verantwortlicher Krankenhausarzt (§ 39 SGB V sieht die Krankenhausbehandlung „nach Prüfung durch das Krankenhaus“ vor) haben die Leistungspflicht der Krankenkasse zu konkretisieren. Nur dann, wenn die Leistung bei ex-ante-Betrachtung sich objektiv als nicht erforderlich erweist, entfällt die Bindungswirkung der ärztlichen Entscheidung. Dies gilt auch bei einer durch Täuschung erschlichenen Leistung.[35]
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Die Verpflichtung durch Inanspruchnahme bedeutet, dass die Leistungserbringer selbst keinen eigenen unmittelbaren Honorierungsanspruch gegenüber dem gesetzlich Krankenversicherten haben. Diese sind frei, solange sie die Leistung nicht rechtswidrig erschlichen hatten. Sie sind gegenüber der Krankenkasse bei rechtswidriger Erschleichung erstattungspflichtig, der Vertragsarzt oder das Krankenhaus ist leistungsberechtigt, solange bei ex-post-Betrachtung nach dem verfügbaren Erkenntnisstand objektiv davon ausgegangen werden konnte, dass ein Behandlungsfall vorlag und die erforderlichen Leistungen veranlasste.
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Tipp
Als Berater von Vertragsärzten sollte darauf hingewirkt werden, die Leistungsentscheidung gegenüber dem Patienten und die zugrunde liegende Diagnostik peinlich genau zu dokumentieren und damit unangreifbar zu machen.[36]
4. Auswirkungen im Verhältnis zur Krankenkasse
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Selbstverständlich kann die Krankenkasse die Leistungsberechtigung einzelfallbezogen substantiiert – speziell für die Zukunft – und mit Hilfe des MD in Frage stellen.
a) Anspruchsprüfung durch den MD
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Da die Krankenkasse den Versicherungsfall, d.h. die medizinischen Voraussetzungen und die Geeignetheit von medizinischen Verfahren, häufig nicht beurteilen kann, hat sie sich bei Zweifeln insoweit des Medizinischen Dienstes zu bedienen. § 275 Abs. 1 und 2 SGB V normiert eine gesetzliche Pflicht. An die gutachterliche Stellungnahme ist die Krankenkasse gleichwohl nicht gebunden.[37]
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Mit dem MDK-Reformgesetz v. 14.12.2019 hat der Gesetzgeber weitreichende materielle Änderungen vorgenommen.[38] Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung wurden organisatorisch von den Krankenkassen getrennt,[39] was sich bereits im Namen sichtbar macht; sie stellen künftig keine Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen mehr dar, sondern werden als eigenständige Körperschaft des öffentlichen Rechts einheitlich unter der Bezeichnung „Medizinischer Dienst“ (MD) geführt.
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Zentrale Änderung stellt die Durchführung und der gesetzliche Umfang von Prüfungen bei Krankenhausbehandlung durch den Medizinischen Dienst gemäß § 275c SGB V dar. Für das Jahr 2020 gilt eine pauschale Prüfquote bis zu 12,5 Prozent (vormals 10 Prozent). Um die Prüfverfahren von Klinikrechnungen zu verringern, gelten ab 2021 quartalsbezogene Prüfquoten je Krankenhaus. Dadurch wird nicht mehr jede möglicherweise falsche Krankenhausrechnung überprüft. Der Prüfumfang durch die von den Krankenkassen beauftragten Medizinischen Dienste korreliert mit der Qualität der Krankenhausabrechnungen. Je höher der Anteil korrekter Rechnungen ist, desto niedriger fällt die Prüfquote im Folgezeitraum aus und umgekehrt (§ 275c Abs. 2 SGB V).[40] Zudem wurde eine Strafzahlung für die Krankenhäuser eingeführt, wenn eine Abrechnung vom MD beanstandet wird (§ 275c Abs. 3 SGB V). Mit der MDKRefG wurde § 275 Abs. 1c SGB V gestrichen. Dieser hatte zum Gegenstand, dass die Prüfung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse zu beantragen und durch den MDK anzuzeigen war. Nunmehr wurde diese Frist auf vier Monate extendiert, um den Kostenträgern mehr Zeit zu gewähren eine gezielte Auswahl der durch den MD zu prüfenden Rechnungen treffen zu können. Unbeschadet der Reform obliegt dem MD im Innenverhältnis zur entscheidenden Krankenkasse alleine die medizinische fachliche Konkretisierung des Leistungsrechts der Versicherten. Ebenfalls neu hinzugekommen sind die sog. Strukturprüfungen nach § 275d SGB V. Bisher wurden strukturelle Voraussetzungen der Leistungserbringung, z.B. die Verfügbarkeit bestimmter Diagnose- oder Behandlungsmöglichkeiten