"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25). Alban Rüttenauer
geneigt sein, von einem seelsorgerlichen Ansatz der Antwort des Propheten zu reden.“ Mit diesem seelsorgerlichen Ansatz versuche der Prophet eine Antwort auf die Frage zu geben: „Was sollen wir denn heute tun?“ (102*). Die Charakterisierung Ezechiels als Seelsorger ist allerdings schon älteren Ursprungs: vgl. C.H. Cornill, Der israelitische Prophetismus, 120: „Ist die religiöse Persönlichkeit das wahre Subjekt der Religion, so ergiebt sich daraus der unendliche Werth einer jeden einzelnen Menschenseele: hier muß der Hebel angesetzt werden, und so gestaltet sich in Ezechiel die Prophetie zur Seelsorge um.“
16 O. Keel, „Zeichensysteme“, 45: „Die Disputationsworte zeigen, daß er dem Volk aufs Maul schauen konnte. Diese Disputationsworte knüpfen an sprichwortähnliche Redensarten an, mit denen sich sein Publikum gegenüber seiner Botschaft zu immunisieren versucht hat. […] So kommt auch im Ezechielbuch nicht nur seine Bildungs-, sondern auch seine Alltagswelt zum Zug.“
17 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Im Ezechielbuch findet sich eine Reihe von geflügelten Worten, die während der Exilszeit im Umlauf waren, sei es unter den Exilierten in Babylon, sei es in der judäischen Heimat.“
18 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Diese Redewendungen geben Einblick in die Art und Weise, wie Ezechiels Zeitgenossen mit dem allmählichen Zusammenbruch ihrer Hoffnungen zurechtzukommen suchten.“
19 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 28: „Diese vielfältigen Stimmen, die im Ezechielbuch laut werden, geben einen Einblick in die geistig-religiöse Landschaft der Zeit Ezechiels.“
20 Fr. Sedlmeier, „Füchse“, 298-300.
21 Jes 40,27: „Wozu sagt Jakob und spricht Israel, verborgen ist mein Weg vor JHWH, an meinem Gott zieht mein Recht vorbei?“ Jes 49,14: „Es sagt Zion, verlassen hat mich JHWH, der Herr hat mich vergessen.“ Man achte auf die chiastische Struktur in bezug auf die Stellung der Gottesbezeichnungen, die auch bei ez Redensarten nicht selten ist. Zum Unterschied ist bei Deuterojesaja die stärkere Subjektivierung feststellbar. Bei Ez findet sich allenfalls die 1. P. Pl. (wenn von Redensarten unter den Fremdvölkersprüchen abgesehen wird, die zuweilen einem einzelnen Fürsten in den Mund gelegt werden). Unterschiedlich ist auch der Umgang, insofern Deuterojesaja nur den Klagecharakter heraushebt, um ihn zum Anlaß für ein Trostwort zu nehmen.
3. Methodische Überlegungen
Die zur Untersuchung der Redensarten benutzte Methode kann in Abwandlung eines Wortes von Berges als diachron reflektierte und Diachronie reflektierende Synchronie bezeichnet werden.22 Dieser Grundsatz schließt drei Schritte ein.
3. a) Synchronie, sofern diachron reflektiert.
Jeder Redensart wird eine knappe Darstellung des unmittelbaren Kontextes vorangestellt. Hier können Hinweise auf Literarkritik und diachrone Analyse nicht völlig vernachlässigt werden, auch wenn für eine ausführliche Diskussion kein Raum bleibt. Dafür wird im Wesentlichen auf Zimmerli zurückgegriffen werden. Sein Kommentar23 ist nach wie vor unerreicht hinsichtlich der Vollständigkeit seiner Angaben und der Ausgewogenheit seiner Interpretation, die literarkritische Beobachtungen mit dem einheitlichen Charakter des Buches zu verbinden weiß.24
Sein Fortschreibungsmodell, das einen Grundbestand des Buches von Ezechiel herkommen läßt, den übrigen Teil des Buches aber einem Erweiterungsprozeß zuschreibt, von welchem wiederum ein Teil noch vom Propheten selbst angehängt worden sein konnte, ein anderer aber auf den Kreis seiner Prophetenschüler zurückzuführen ist, hat im allgemeinen Schule gemacht.25 Dieses Modell empfiehlt sich wegen seiner relativen Offenheit und Dehnbarkeit, wodurch es noch einer großen Zahl von Möglichkeiten Raum gibt, wie diese Fortschreibung entsprechend aktueller Erkenntnisse im Einzelnen zu erklären und beschreiben ist.
Natürlich teilen nicht alle Exegeten den Ansatz Zimmerlis. Greenberg26 verzichtet weitgehend auf Literarkritik und verlegt sich auf synchrone Strukturanalysen. Becker geht von einem pseudoepigraphischen Werk der Nach-Exilszeit aus. Er wurde ursprünglich von der Beobachtung geleitet, daß die redaktionellen Teile des Buches meistens gerade die theologisch bedeutsamsten sind und dem Redaktor möglicherweise der Löwenanteil des Buches zukommt.27 Von dort bis zu der Ansicht, daß der Redaktor selbst der eigentliche Autor sei, ist nur ein kleiner Schritt, den einzuschlagen Becker nicht gezögert hat. Positiv ist an seinem Ansatz das Interesse zu vermerken, die eigentliche theologische Aussage des Buches hervorzuheben und der theologischen Reflexion über Prophetie genauso viel Gewicht beizulegen wie dieser selbst.28 Für die Einordnung der zitierten Redensarten in das Buchganze wird dieser Aspekt zu berücksichtigen sein, weil deren Aufgreifen der Suche nach einer angemessenen Interpretation der prophetischen Botschaft verdankt sein könnte. Elemente einer weitergehenden Reflexion sind unverkennbar auch beim Umgang mit den Redensarten zu spüren. Sie zeigen sich schon rein äußerlich in der Formelhaftigkeit der Einleitungen, die auf eine gewisse Distanz zu den unmittelbaren Ereignissen hindeuten könnte. Mehr als die darin angedeuteten faktischen Ereignisse scheint den Propheten deren Einordnung im Verständnis der Leute zu interessieren.
Ob dies aber mit der pseudoepigraphischen Hypothese wirklich zuverlässig - und nicht bloß durch Postulat - zu erreichen ist, bleibt fraglich. Vielleicht wäre Becker besser beraten gewesen, bei der früheren gemäßigten Auffassung zu bleiben, die den theologisch denkenden Redaktor nicht gleich zum Autor macht. Der Begriff der Propheteninterpretation, als Eigentümlichkeit des Ezechielbuches aufgefaßt, könnte in manchem weiter führen als der mit vielen Mißverständnissen belastete der Pseudoepigraphie. Immerhin muß Becker zugestanden werden, für seine pseudoepigraphische Hypothese um größtmögliche Plausibilität bemüht zu sein. Wenn das Buch nicht später als 450 v. Chr. entstanden sein sollte, dann ist es zwar nicht leicht, aber auch nicht unmöglich, eine emotionale Beschäftigung mit knapp mehr als hundert Jahre zurückliegenden Ereignissen anzunehmen.29 Es ist aber auch auf die Schwierigkeit hinzuweisen, daß für Deuterojesaja die Zerstörung Jerusalems und des Tempels kein Thema mehr zu sein scheint, sowie auf den seltsamen Umstand, daß das Ezechielbuch keine direkte Kritik an den Babyloniern zu äußern wagt und sie nur als Vollstrecker des göttlichen Zornes sieht.
Einem pseudoepigraphischen Ansatz neigt auch Schöpflin zu. Mit der rein fiktiv zu verstehenden autobiographischen Darstellung wolle eine für den anonymen Autor bereits länger zurückliegende Epoche wiedergegeben werden.30
Wie bei einer, zumindest was die historische Greifbarkeit der Person Ezechiels selber betrifft, der pseudoepigrapischen nicht unähnlichen Hypothese die theologische Einheitlichkeit des Buches nachgerade entgleitet, davon gibt der redaktionskritische Ansatz von Garscha und Pohlmann Zeugnis. In Ablehnung eines vorgefaßten Prophetenbildes untersuchen sie die Intentionen des mutmaßlichen Redaktors. Sie kommen dann zu dem Schluß, daß es nicht nur einen, sondern mehrere Redaktoren gegeben haben muß, die aus unterschiedlichen und meist entgegengesetzten Perspektiven gearbeitet haben, indem sie die Interessen unterschiedlicher Gruppen, vor allem die der ersten Golah und der Diaspora, vor Augen hatten.31 Man kann fragen, ob dann gegenüber den späteren Redaktionen das ursprüngliche Prophetenbuch nicht hätte stärker gemacht werden müssen, anstatt es fast dahinter verschwinden zu lassen. Denn so wird nicht mehr deutlich, was die Redaktoren an dem Buch so fesselte, daß sie es mit aller Gewalt auf ihre Seite zu ziehen versuchten, anstatt ein neues zu verfassen. Interessant wäre in dem Sinne die Frage, ob sich ursprüngliche Prophetenworte herausschälen ließen, die noch keine Tendenz zu Gruppenegoismus zu erkennen geben.
Der Aufweis von Spannungen kann wertvoll sein, wenn er die Aussicht auf eine höhere Synthese, in der sie zur Einheit gelangen, steigert. Er wirkt um so unbefriedigender, wenn die Spannungen bloß ins Leere laufen und die Frage nach dem Warum und dem Wozu unbeantwortet lassen. Die Idee einer hundertjährigen Glaubensgeschichte32 ist ein schöner Gedanke, doch wenn die Redaktoren nur gegeneinander geschrieben hätten, fehlte gerade das Entscheidendste daran: das Gemeinsame und Kontinuierliche innerhalb dieses Glaubens.