Welt der Schwerter. E. S. Schmidt
hatten dies bis ins Extrem betrieben und hatten auf diese Weise unglaubliche Not und Armut gesehen. Es war erschreckend, in welchem Elend manche Menschen leben mussten. Ob das wohl noch heute so war? Viele Kranke waren zu den Königinnen gebracht worden, weil nach dem Volksglauben die Berührung der Akh’Eldash heilende Wirkung hatte, ein Glaube, den nicht jede Akh’Eldash bereitwillig übernahm. So schrieb etwa die dreiunddreißigste Akh’Eldash: »Ich fühle mich keineswegs so, als verfüge ich über besondere Fähigkeiten. Ich spüre keine Kraft von mir ausgehen, wenn ich diese Menschen berühre. Aber in dem einen oder anderen Fall ist tatsächlich, nachdem ich meine Hand auf einen Kranken gelegt habe, eine Besserung eingetreten, ohne dass ich sagen könnte, was ich in diesen Fällen anders getan hätte als in anderen. Aber der Segen der Erdmutter liegt auf mir, und das kann ich wohl nicht verleugnen.«
Lynn untersuchte gewissenhaft ihre Handflächen auf eine Veränderung hin, bis sie über ihre eigene Einfältigkeit lachen musste. Wenn sie als kleines Mädchen gestürzt war, hatte da nicht der Schmerz nachgelassen, wenn ihre Mutter über die Schramme gepustet und sie in den Arm genommen hatte? Vermutlich hatte einfach die beruhigende Gewissheit, dass alles gut werden würde, die Angst und damit auch den Schmerz gelindert. Außerdem musste Lynn feststellen, dass einige Akh’Eldash an eben jenen Leiden erkrankt waren, die sie zu heilen versucht hatten. Die angebliche Zaubermacht der Akh’Eldash war wohl allein auf den Aberglauben des Volkes zurückzuführen.
Doch dieses Wunderwirken war nicht das Einzige, womit sich die Frauen auseinandergesetzt hatten. Manche von Lynns Vorgängerinnen hatten mit philosophischem Geist Weisheiten und Merksprüche hinterlassen, denen Lynn allerdings nicht immer vorbehaltlos zustimmte. Andere hatten mit geradezu wissenschaftlicher Akribie versucht, den No’Ridahl und seine Wirkung zu erforschen. Offenbar hatten sie, genau wie Lynn, stundenlang vor einem Spiegel gestanden und zu ergründen versucht, was die endlose Weite und die wabernden Schlieren zu bedeuten hatten, und wie dieser Eindruck zustande kommen mochte. Zumindest hatten sie das getan, bis der Uhlan vollzogen worden war.
Danach wurde es um das Mal der Göttin merkwürdig still. Selbst der Uhlan an sich war offenbar für keine von Lynns Vorgängerinnen bedeutungsvoll genug gewesen, um das Geschehen niederzuschreiben. Oder hatte man diese Stellen beim späteren Kopieren getilgt? Lynn blätterte suchend herum und fand schließlich einen einzigen Eintrag. Er machte deutlich, warum keine der Frauen darüber hatte schreiben wollen. Erst die dreiundvierzigste Akh’Eldash hatte den Mut dazu gefunden.
»So heiß brennt in mir die Scham darüber, dass ich das Geschenk der Erdmutter nicht mit meinem Leben verteidigt habe. Doch ich wusste es nicht besser, bis die glühende Spitze mich berührte. Da schrie ich auf voll Entsetzen und der König verschloss meinen Mund mit der Hand, sodass ich fast erstickte. Der Schmerz der glutheißen Nadel war so tief, so durchdringend, erfasste mein ganzes Wesen, als würde er das Leben selbst in mir zu Asche verbrennen. Der König hat mir mein Herz entrissen, meine Seele, und dafür werde ich ihn hassen, solange ich lebe.«
Hastig schlug Lynn das Buch zu, als könne der lederne Einband zugleich die schrecklichen Bilder verdecken, die sich in ihrem Kopf formten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Das also stand ihr bevor. Etwas so Schreckliches, dass keine ihrer Vorgängerinnen je wieder daran hatte denken wollen.
An diesem Tag las sie nicht weiter. Stattdessen half sie Thaja, ausgekeimte Butterzwiebeln zu pflanzen. Die fröhliche Gemeinschaft brachte sie bald auf andere Gedanken und die Erinnerung an die erschreckenden Worte sank ganz tief in Lynns Geist hinab, wo es leicht war, so zu tun, als habe sie sie niemals gelesen.
Am vierten Tag suchte Lynn nach den Einträgen der legendären Haldia. Jedes Kind kannte ihre Geschichte. Die vierundzwanzigste Akh’Eldash hatte ihr Herz an den schneidigen Neran von Fherrn verloren und den No’Ridahl vor ihm enthüllt. Gemeinsam waren sie geflohen, doch der geprellte Bräutigam hatte in seinem Zorn das gesamte Haus von Fherrn ausgelöscht und das liebende Paar bis in die Berge der Thulmark verfolgt. Dort hatte man die beiden erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden. Eng umschlungen waren sie in einer Höhle erfroren.
Die blumigen, aber wenig kunstvollen Worte, mit denen Haldia ihre Liebe im Eldash-Mithral festgehalten hatte, ließ sie vor Lynns innerem Auge lebendig werden. Die mythische Sagengestalt trat gleichsam aus der Geschichte heraus wie aus einem alten Gemälde und schrumpfte zu einem unreifen, verblendeten Mädchen, das offenbar nicht begriffen hatte, welches Unglück ihre Selbstsucht über sie und andere brachte. Wenn das die Liebe war, von der Mädchen wie Beringa und Thaja immer schwärmten, dann war Lynn froh, dass sie das noch niemals erlebt hatte. Es war dumm, verblendet und selbstsüchtig.
War aus Liebe nicht noch Schlimmeres geschehen? Über dreihundert Jahre war es her, dass Erina von Brelach statt des Thronfolgers Oneron dessen jüngeren Brüder Galather erwählt und damit den Bruderkrieg ausgelöst hatte, der das Reich spaltete. Ihre Einträge waren zwar weniger schwülstig als die der verliebten Haldia, aber das Ergebnis ihres Handelns zeigte doch, wie verantwortungslos es am Ende gewesen war. Es hatte zu dreihundert Jahren wiederkehrender Kriege geführt.
Wie dumm war ihre Frage an die Priorin gewesen, ob sie ihren Gatten auch lieben würde! Wie unwichtig das war! Ergebenheit und Sanftmut. Die Liebe der Göttin wirken. Vielleicht war dies tatsächlich der bessere Weg. Nicht die eigene Liebe, die eigene Erfüllung suchen. Sie war die Gesalbte der Göttin. Ihr Leben gehörte nicht ihr allein. Sie glaubte zwar noch immer, die Erdmutter müsse sich bei ihrer Wahl geirrt haben, aber es war nun einmal geschehen, und so würde sie ihr Bestes geben, zum Wohle des Reiches und des Tempels. Sie würde der Weisheit der Erdmutter vertrauen und sich den alten Traditionen beugen.
Sie empfand bei diesem Entschluss eine schmerzhafte Wehmut, als verabschiede sie sich nun endgültig von ihrer Kindheit – und doch war da auch eine gewisse Erleichterung. Nun, da sie sich entschieden hatte, schien der Weg klarer und heller vor ihr zu liegen.
Es klopfte, und Lynn schreckte auf. »Ja?«
Blinthe, ihre Zofe, trat ein. »Eure Eskorte ist eingetroffen. Die Priorin erwartet Euch, um sie gemeinsam zu begrüßen.«
»Ich komme.« Lynn erhob sich und wollte zur Tür eilen, doch Blinthe trat ihr in den Weg und warf einen bedeutsamen Blick zur Kommode hinüber. Dort ruhte der Lorun-Uhn, der Reifschleier, auf einem Gestell. Da es im Stift nur Frauen gab, hatte Lynn den Schleier in den vergangenen Tagen nicht getragen. Blinthe half ihr, ihn anzulegen, dann gingen sie gemeinsam hinunter.
Die Priorin empfing sie in ihrem Arbeitszimmer, von dem aus eine Tür in den öffentlichen Saal führte. »Wie weit bist du mit dem Eldash-Mithral?«
Lynn wurde verlegen, wollte nicht zugeben, dass sie mehr gelesen als geschrieben hatte. »Ich werde noch viele Tage brauchen, um den Rest zu kopieren.«
»Das war zu erwarten. Du wirst eine Abschrift des Buches mitnehmen, um dein eigenes Exemplar fertigzustellen. Aber versäume nicht, es auch wirklich zu tun.«
Lynn hatte sich anfangs gefragt, warum sie die Texte abschreiben musste, wo es doch genügend von den Heiligen Schwestern gefertigte Kopien im Tempel gab, doch inzwischen war ihr der Grund dafür klar geworden. Die Worte, die sie abgeschrieben hatte, waren bereits tief in ihrem Gedächtnis verankert, und bei manchem Satz offenbarte sich erst beim Schreiben eine Bedeutung und Weisheit, die ihr beim bloßen Lesen verborgen geblieben war.
»Ich werde alles kopieren und Euch das andere Exemplar zurücksenden«, versprach sie. »Wisst Ihr schon, wann der Kanzler aufzubrechen gedenkt?«
»Es ist nicht der Kanzler, der die Eskorte führt.« Die Priorin kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Es ist Coridan Graf von Thul persönlich.«
Der Sohn des Königs. Der uneheliche Sohn des Königs. Lynn verzog das Gesicht. »Ruothgar schickt seinen Bastard?«
»Lynneth!« Die Priorin blickte tadelnd. »Er ist zwar nicht der Kronprinz, aber durch seine Adern fließt königliches Blut. Also benimm dich entsprechend.«
»Das werde ich.« Lynn nahm sich vor, den Mund zu halten. Zumindest, bis sie das Damenstift verlassen hatten. Danach würde der königliche Bastard durchaus die wahre Lynneth von Vallathrys kennenlernen.
Oh