Welt der Schwerter. E. S. Schmidt
über deren Brust. Im Aufstehen stemmte sie ihre Last mit in die Höhe. Ihre Beine zitterten, als sie Thaja rückwärtsgehend zum Wasser hinüberzog. Der schimmernde Kreis unter der Oberfläche war ihr Ziel, ihr einziger Fixpunkt in der schwarzen Leere. Bald umspülte das kühle Wasser ihre Füße, das rasch tiefer wurde und ihr einen Teil der Last abnahm.
»Wie kann ich helfen?«, fragte jemand neben ihr.
»Geh zurück und sag der Priorin, was geschehen ist … und ich brauche jemanden, der uns auf der anderen Seite in Empfang nehmen kann.«
»Das mache ich.« Sie spürte die Strömung des Wassers, als das Mädchen an ihr vorbeieilte. Dann fiel ihr ein, dass sie Thaja nicht durch das Loch ziehen und sie gleichzeitig vor dem Wasser schützen konnte. »Jemand muss Thaja Mund und Nase zuhalten, während wir tauchen.«
»Das kann ich tun!«
Vermutlich waren jetzt alle Kanonissen im Wasser. Sie würden das Ritual wiederholen müssen, aber dann war das eben so.
Lynn zog Thaja zum Loch hinüber, dann wartete sie. Jemand tastete über ihre Arme. »Das bin ich«, sagte Lynn. »Thajas Gesicht ist weiter oben.«
Die Finger verließen ihre Haut und kurz darauf kam die Bestätigung.
»Lass sie noch mal atmen, dann machen wir es auf drei.« Es musste schnell gehen, Thaja sollte nicht ersticken. »Eins … zwei …« Bei drei tauchte Lynn ab, ertastete mit Rücken und Schultern die Felswand, ging tiefer und schlüpfte rückwärts durch den Durchbruch. Glücklicherweise war er kaum eine Elle tief, und so tauchte sie kurz darauf in der von Kerzen erhellten Vorhöhle wieder auf. Das nasse Haar klebte um ihren Kopf und hing ihr in die Augen, was sich durch Kopfschütteln nur wenig verbessern ließ. Thajas Gesicht befand sich sicher über der Oberfläche und die andere Kanonisse nahm ihre Hand von Thajas Mund und Nase. Lynn fühlte beruhigt die Atembewegung des Brustkorbes unter ihren Armen.
Immer mehr Mädchen kamen durch den Spalt zurück, und während Lynn Thaja zum Ufer brachte, versicherte sie sich mit einem kurzen Blick, dass auch Beringa und Sibyllin unter ihnen waren. Viele Hände halfen ihr, die noch immer Bewusstlose aus dem See zu tragen. Endlich lag Thaja auf dem steinernen Boden. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und vermischte sich mit dem Wasser.
Lynn strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Wir müssen sie die Treppe hinauftragen.« Für sie allein war Thaja zu schwer. »Beringa, vielleicht kannst du ihre Füße …« Sie stockte, als sie merkte, dass alle sie anstarrten.
»Es reicht«, sagte die Priorin. »Die Schwestern werden sich um Thaja kümmern. Du wirst jetzt mit mir kommen.«
Wollte die Priorin sie tatsächlich maßregeln? Ja, sie hatte das Ritual gestört, aber sie hatte Thaja wohl kaum in der Dunkelheit in ihrem Blut liegen lassen können. »Es tut mir leid«, sagte sie trotzig. »Die Erdmutter wird es verstehen müssen.«
»Das tut sie«, erwiderte die Priorin. »Doch du musst deine Freundin nun anderen Händen überlassen … Akh’Eldash.«
Kapitel 2
So lehren sie es uns, dass wir Frauen nicht nur schwächer sind, sondern auch schlichter im Geiste und in allem geringer. Aber weshalb sollte die Erdmutter einer der unseren dann solche Macht verleihen?
– 14. Akh’Eldash, 5. Eintrag, Verse 17+18
Lynn saß mit angezogenen Beinen in einem der Lehnstühle im Arbeitszimmer der Priorin und zitterte trotz der Wolldecke. Das Zittern kam tief aus ihrem Inneren und wollte einfach nicht aufhören. Wieder und wieder befühlte sie die Erhebung in der Mitte ihre Stirn, dort, wo sie gesalbt worden war. Das Mal hatte eine glatte Oberfläche, glatter als Haut, mehr wie polierter Stein. Sie fühlte die Glätte zwar an den Fingerspitzen, aber an ihrer Stirn war die Stelle völlig taub. Als gehöre dieses Ding nicht zu ihr.
Die Priorin reichte ihr wortlos einen Spiegel. Lynn nahm ihn, zögerte aber, hineinzublicken. Noch konnte es eine einfache Schwellung sein, eine Beule, die sie sich in der Dunkelheit der Höhle zugezogen hatte.
»Schau hinein, Lynneth. Sieh dich an.«
Widerstrebend gehorchte sie. Ein blasses Gesicht schaute ihr entgegen, und auf der Stirn leuchtete rot wie ein Sonnenuntergang der No’Ridahl, der Kuss der Göttin.
Er wirkte durchsichtig, doch dahinter sah Lynn nicht ihre Stirn, sondern in eine weite, offene Leere, in der sich Schlieren bewegten. Bei dem Anblick wurde ihr schwindelig, und sie ließ den Spiegel sinken.
Unzählige Namen hatte man ihm gegeben: Liebesfleck, Himmelsauge, Rotstern, aber auch Sklavenmacher und Knebelstein.
Die Priorin setzte sich neben sie und legte die Hand auf Lynns angezogene Beine. »Du bist die achtundvierzigste Akh’Eldash des neuen Reiches, die Hohepriesterin der Erdmutter.«
Hohepriesterin. Genaugenommen stand sie damit sogar über der Priorin. Doch während die Priorin den Orden führte, waren die Aufgaben der Akh’Eldash ritueller Natur. Sie würde die Liebe der Göttin wirken, was immer das heißen mochte. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich mit dem König des Landes zu vereinigen und ihm Kinder zu gebären.
»Ich bin die Falsche.« Lynn war noch immer wie betäubt. »Die Erdmutter hat sich geirrt.«
Die Priorin lächelte nachsichtig. »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Große Mutter zu hinterfragen. Sie hat entschieden, und niemand kann daran mehr etwas ändern.«
»Aber ich kann das nicht!«
»Was denn?« Der Blick der Priorin wurde streng. »Du wirst der Göttin dienen und ihre Liebe wirken, das ist deine Berufung.«
»Was bedeutet das überhaupt?«
»Dass du allen Menschen das Wesen der Erdmutter zeigst. In dir wird jeder die Liebe der Mutter erkennen.«
Wie sollte sie einem solch enormen Anspruch gerecht werden? Wie sollte irgendein Mensch das können – und nun gerade sie, die noch nie im Leben verliebt gewesen war?
Nicht nur, dass man ihr eine unlösbare Aufgabe stellte, sie durfte noch nicht einmal selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestaltete, um sie zu erfüllen. »Aber ich werde einem Mann gehören.«
»Ja, und er wird dir gehören. Er wird dich lieben.«
»Das ist keine Liebe«, sagte Lynn verstockt. »Es ist ein Zauber.«
Die Priorin seufzte. »Jede Liebe auf der Welt geht auf die Erdmutter zurück: die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die einer Frau zu ihrem Mann und auch die, die der No’Ridahl weckt. Sie alle sind gleichermaßen ein Zauber.« Sie erhob sich. »Warte hier.«
Lynn legte den Spiegel zur Seite und zog die Decke fester um sich, obwohl sie nicht mehr fror. Das Zittern war abgeklungen, und das lähmende Entsetzen wich langsam einem zornigen Trotz. Sie würde natürlich tun, was der Orden von ihr erwartete. Was blieb ihr anderes übrig? Aber sie musste es weder unterwürfig noch gern tun.
Doch. Genau das wurde von ihr verlangt: Ergebenheit und Sanftmut, Demut und Fügsamkeit. Das erwartete man von jeder Ehefrau und umso mehr von der Akh’Eldash, deren Aufgabe es war, ein Vorbild an Liebe und Hingabe zu sein. Aber so war sie nicht, war sie nie gewesen. Die Priorin hatte es selbst gesagt: Sie würde daran zerbrechen – und nun verlangte die Göttin genau das von ihr. Die Große Mutter, die allen ihren Kindern ins Herz sehen konnte, musste doch wissen, dass Lynn die Allerungeeignetste für diese Aufgabe war. Hatte sie das nicht bewiesen, als sie Thaja geholfen und damit das Ritual gestört hatte?
Die Priorin kehrte mit einer Kassette zurück und Lynn fragte: »Wie geht es Thaja?«
»Sie ist aufgewacht und lässt dich grüßen.« Die Priorin setzte sich wieder, stellte das Kästchen auf ihren Schoß und entnahm ihm einen zarten, weißen Stoff. »Der Lorun-Uhn, der Reifschleier der Akh’Eldash.« In ihren Händen entfaltete sich ein luftiges Gespinst. »Man erkennt es von außen kaum, aber er ist in Augenhöhe weniger dicht gewebt.«
»Also werde ich mein Unglück zumindest kommen sehen.« Lynn