Welt der Schwerter. E. S. Schmidt

Welt der Schwerter - E. S. Schmidt


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dieser scheinbaren Symmetrie war jedes Mal aufs Neue atemberaubend, selbst für jene, die um die Täuschung wussten.

      Niemand konnte sagen, wie alt dieses Heiligtum war. Es hieß, schon die Frauen des alten Volkes hätten hier die Erdmutter verehrt.

      Der Geruch nach feuchtem Kalk mischte sich mit dem Duft von geschmolzenem Wachs. Die Kerzen der Mädchen standen nun ringsum auf erstarrten Wachskaskaden, die sich von Felsvorsprüngen und aus Nischen ergossen, hinterlassen von Generationen von Besucherinnen. Auch Lynn tropfte ihre Kerze auf einen der mächtigen Wachspanzer. Dann trat sie in den Kreis der Mädchen, die sich am Rand des stillen Sees aufgestellt hatten.

      Hinter ihnen betrat die Priorin die Grotte, gefolgt von den Heiligen Schwestern. Lynn erkannte es am Rascheln der Kleider und dem zusätzlichen Licht. Niemand sprach ein Wort. Hier unten war die grobe menschliche Sprache weder erwünscht noch von Nöten. Man hatte ihnen erklärt, was zu tun war. Doch keines der Mädchen machte Anstalten, zu beginnen. Unsichere Blicke flogen unterhalb gesenkter Lider hin und her.

      Nun, Lynn war die Älteste und Erfahrenste hier, und da sie nun schon dabei war, konnte sie auch dafür sorgen, dass sie es hinter sich brachten. Sie schob die Träger auf ihren Schultern zur Seite, und der Stoff glitt in einer fließenden Bewegung zu Boden. Die anderen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Lynn wartete, bis auch die letzte Kanonisse nackt dastand.

      Etwas berührte ihre Finger. Sibyllin schob ihre Hand zaghaft in Lynns und schaute zu ihr auf. Das Mädchen hatte den ganzen Morgen nur von dem Prinzen gesprochen. Allein das Wort übte eine magische Wirkung auf sie aus. Ob die Göttin sie wohl erwählen würde? Ein so junges Mädchen, dem zweitmächtigsten Mann des Reiches ausgeliefert? Lynn wünschte es ihr nicht, aber niemand konnte den Ratschluss der Göttin vorhersagen. Sie drückte Sibyllins Hand sachte und lächelte beruhigend. Dann, mit Sibyllin an der Hand, stieg sie in den Spiegelsee.

      Das Wasser war kühl, aber nicht kälter als während des Rituals im Sommer. Doch heute würden sie es nicht dabei bewenden lassen, sich im Becken des Sees zu reinigen. Heute würden sie tiefer dringen, würden ihren Weg über die Grotte hinaus in das Allerheiligste suchen, das sonst nur die Tempelschwestern betraten.

      Hinter Lynn stiegen auch die anderen Mädchen ins Wasser. Der See geriet dadurch in Bewegung, sein Glucksen und Plätschern hallte in der Höhle wider. Das Wasser wurde tiefer, reichte Lynn schließlich bis zum Bauchnabel. Sibyllin ging es bis über die Brust, und sie reckte furchtsam die Nase in die Höhe. Lynn drückte beruhigend ihre Hand. Tiefer würde das Becken nicht werden.

      Sie erreichten das hintere Ende der Höhle, und Lynn tastete mit der freien Hand über die Wand unter der Wasserfläche, fand die abgerundete Kante. Der Durchbruch war groß genug, um sie hindurchzulassen. Sie nickte Sibyllin auffordernd zu und holte tief Luft. Die Kleine tat es ihr nach, und zusammen tauchten sie ab.

      Das Wasser war glasklar und der Durchschlupf gut zu erkennen: ein rundes Loch, das in absolute Schwärze führte. Lynn stieg hindurch und zog Sibyllin hinter sich her. Die freie Hand sichernd nach oben gestreckt richtete sie sich dann auf und erreichte schnell die Oberfläche. Das Wasser war hier ebenso flach wie auf der anderen Seite.

      Tiefe Finsternis herrschte um sie herum. Lynn hatte keinen Begriff davon, wie groß diese zweite Höhle war. Nach dem Klang zu urteilen, mit dem das Geräusch des plätschernden Wassers zu ihr zurückhallte, musste sie riesig sein – und sie war vollkommen dunkel.

      Aus dieser Höhle erstreckte sich ein Gang tief ins Innere der Welt, so tief, dass noch nie ein Mensch an sein Ende gelangt war. Von dort waren die Erstlinge gekommen – die ersten Exemplare eines jeden Lebewesens, das diese Welt beherbergte. Hier waren sie geboren worden. Dies war der wahre Mutterschoß.

      In der absoluten Schwärze malte die Einbildung Blitze und Funken vor Lynns Augen. Ob es hier drin außer ihr noch anderes Leben gab? Seltsame Kreaturen, die aus dem Inneren der Erdmutter heraufgekrochen kamen, Nachgeborene der ersten Schöpfung? War dies womöglich mehr als eine Erwählung? Stand ihnen eine Prüfung bevor?

      Sibyllin drängte sich an sie, und Lynn spürte das Zittern des Kindes. Sie selbst musste stark sein. Es gab ja auch gar keinen Grund zur Furcht. Dies war der Mutterschoß, der Ursprung allen Lebens. Hier hatte jede Liebe und Fürsorge der Welt ihren Anfang genommen. Hier war sie dem Herzen der Mutter näher als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt. Wo könnte sie sicherer sein?

      Beruhigend legte sie eine Hand auf Sibyllins schmalen Rücken, streckte die andere sichernd nach vorne und ging mit entschiedenen Schritten weiter. Der Boden stieg an und sie verließen das Becken, doch auch hier fand Lynn keine Wand. Wieder und wieder tastete sie ins Leere.

      Es war sicherer, sich nicht zu weit vom Becken zu entfernen. Lynn wandte sich um. Vom Licht der Kerzen auf der anderen Seite erhellt tanzte der Durchschlupf als bläuliches Oval unter der bewegten Wasseroberfläche und zeigte ihnen so den Rückweg an. Die anderen Mädchen kamen durch die Öffnung, schwarze Silhouetten im schimmernden Oval, wie Geister, die rasch wieder mit der Dunkelheit verschmolzen. Geräusche zeigten, dass sie aus dem Wasser stiegen und sich im Raum verteilten. Lynn setzte sich frierend zu Boden. Sibyllin kauerte sich ebenfalls nieder, drückte sich furchtsam an sie, und Lynn legte ihren Arm um das zitternde, kleine Mädchen.

      Schließlich waren alle Kanonissen durch das Loch getaucht, und es begann das Warten in Schwärze und Stille. Je mehr sich Lynn an die Stille gewöhnte, desto lauter klang der gelegentliche Tropfen, der von den Wänden fiel, oder das Schaben, wenn eines der Mädchen sich bewegte. Von links schwebte unterdrücktes Schluchzen zu ihr herüber – Beringa.

      Für ein Ritual waren sie seltsam passiv. Ihre Aufgabe war es nur, zu sitzen und zu beten – sich der Göttin hinzugeben, hatte es die Priorin genannt. Lynn hatte sich noch nie sonderlich gut ins Gebet versenken können, zu vielfältig waren ihre Gedanken, zu quälend die erzwungene Tatenlosigkeit. Vermutlich hatte die Priorin recht damit, dass sie nicht in die Schwesternschaft passte. Schon jetzt regte sich ihre Ungeduld. Wenn die Göttin eine von ihnen erwählen wollte, warum konnte sie das nicht jetzt sofort tun? Worauf wartete sie? Sicherlich kannte sie doch das Herz jedes Mädchens hier zur Genüge.

      Dennoch blieb ihnen nichts, als ergeben zu warten. Irgendwann würde sich eine von ihnen über die Stirn tasten und den No’Ridahl erfühlen. Dann würde sich diese Erwählte erheben und auf die andere Seite zurückkehren, das Zeichen für alle anderen, ihr zu folgen und das Ritual damit zu beenden.

      Wie lange es wohl dauern würde? Lynn verlor jedes Gefühl dafür, wie viel Zeit verging. Es gab nichts außer der Stille, der Kühle und der Dunkelheit. Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf sie und ihr Kopf sank auf die angezogenen Knie.

      Ein Stöhnen ließ sie zusammenschrecken. Sibyllin klammerte sich an ihren Arm. Hatte sie geschlafen? Wenn ja, wie lange?

      Von links hörte sie wieder ein Stöhnen, dann ein Klopfen und Kratzen. Das Geräusch kam ihr bekannt vor, aber woher bloß? Dann erkannte sie es. »Thaja hat einen Anfall!« Ihre Worte hallten hohl in der Stille wider.

      Zischen antwortete von mehreren Seiten. Während des Rituals waren Worte tabu. Einen Moment lang zögerte Lynn. Durfte sie das Ritual unterbrechen? Den Zauber der Erdmutter stören? Aber wenn Thaja sich auf die Zunge biss, wie es schon einmal geschehen war, wenn das Blut ihre Kehle hinab lief, und sie nicht bei Bewusstsein war …

      Lynn nahm Sibyllins Hand in die Linke und tastete sich mit der Rechten voran, während sie über den glatten Steinboden in Richtung der Laute kroch. Ihre Finger berührten etwas Weiches, Warmes. Etwas, das leise schniefte. Beringa.

      Lynn flüsterte: »Kümmere dich um Sibyllin.« Sie legte Sibyllins Hand auf Beringa und kroch nun rascher weiter. Es wurde dringend. Die Geräusche endeten in einem langgezogenen Röcheln.

      Wieder ein Körper. Das Mädchen lag lang ausgestreckt auf dem Boden und reagierte nicht auf Lynns Berührung. »Thaja?« Keine Antwort. Jetzt zischte niemand mehr, und so sagte Lynn in die Dunkelheit: »Thaja ist nicht mehr bei sich. Wir müssen sie rausbringen.« Sie ertastete die Schulter der Freundin und hob deren Oberkörper an. Schwer lehnte sich Thajas Gewicht gegen ihre Brust. Lynn roch etwas Metallisches und erriet, dass es Blut war. Hatte Thaja sich auf die Zunge gebissen


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