Welt der Schwerter. E. S. Schmidt
Erdmutter wird kein Kind erwählen«, sagte Coridan voller Überzeugung. »Vermutlich wird sie dreizehn oder vierzehn sein.« Viel älter wohl kaum, denn in diesem Alter galten die Mädchen als erwachsen, ihre Ausbildung im Stift war abgeschlossen, und sie wurden verheiratet.
»Sag es ihr«, bat Siluren. »Gleichgültig, wie alt sie ist.«
»Selbstverständlich.« Coridan verstaute das Kästchen in seiner Satteltasche. »Auf dem Rückweg werde ich dich ihr in den schönsten Farben malen.«
»Lieber nicht.« Siluren lächelte schwach. »Ruothgar hat recht – wecke besser keine Erwartungen, die ich später enttäusche.«
Die Brüder gaben sich die Hand und Coridan stieg in den Sattel. Sie würden zu viert reisen: er und Dendar auf Ulphanen, dazu der Kutscher Helim und ein junger Soldat namens Srimm, der den Platz hinter dem geschlossenen Aufbau des Wagens einnahm. Es war eine kleine Eskorte, aber Coridan kannte jeden der Männer gut, und Schwierigkeiten waren auf der Reise nicht zu erwarten.
Der Trupp setzte sich in Bewegung und die Räder der Kutsche ratterten über den gepflasterten Hof. Als sie das Tor durchritten, sagte Dendar: »Ich fürchtete schon, der Prinz würde den ganzen Tag vertrödeln.«
»Hast du es eilig?«
»Du natürlich nicht, mit deiner anspruchslosen Strenge. Ich habe einfach mehr Fantasie als du.«
»Worüber fantasierst du denn so?«
Dendars Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. »Das Tempelstift ist ein Haus voller Jungfrauen – worüber wohl?«
»Jungfrauen«, wiederholte Coridan betont, »und von Adel. Du wirst keiner von ihnen auch nur die Hand küssen, geschweige denn irgendetwas anderes.«
»Du weißt doch, wenn du eine Nacht in der Nähe einer Frau verbringst, die du begehrst, und die dich begehrt, dann können die Geister es fügen, dass ihr euch in euren Träumen begegnet.«
»Die Geister«, sagte Coridan betont, »werden ihren dunklen Zauber wohl kaum so nah am Mutterschoß weben.«
»Sie hätten es leicht. Überlege dir einmal, wie viele begehrenswerte und völlig ausgehungerte Frauen in diesem Haus zusammengepfercht sind.«
»Du solltest dir andere Fantasien suchen. Der Adel ist bekannt dafür, ungewollte Buhlen aufzuhängen.«
»Man kann einen Mann nicht für seine Träume hängen.«
»Verwette nicht deinen Hals darauf.«
***
Die Priorin hatte dem gesamten Tempel einen Tag des Fastens und Betens verordnet, um sich für das Bevorstehende zu reinigen. Der Markgraf und sein Sohn sowie alle männlichen Diener des Tempels hatten sich im Dorf am Fuße des Tempelberges einquartieren müssen. Kein Mann sollte mit seiner Anwesenheit die Manifestation des weiblichen Prinzips stören.
Am frühen Morgen des folgenden Tages betraten alle Kanonissen gemessenen Schrittes den Anbetungssaal. Der Saal war leer bis auf eine Stundenkerze, die neben der Tür zum Heiligtum stand. Die Flamme zitterte im Luftzug, als die Mädchen eintraten.
Lynn liebte das weiße Ritualkleid. Barfuß und barhäuptig, nur in das kühle Leinen gehüllt, fühlte sie sich der Göttin auf seltsame Weise näher. In solchen Momenten wurde die Sehnsucht, zur Schwesternschaft zu gehören, noch größer. Keine Unsicherheit mehr, kein Warten, keine Furcht. Ihr Lebensschiff würde in einen Hafen einfahren und zur Ruhe kommen. Dies hier, ein Leben, das Frauen in eigener Verantwortung gestalteten, zum Dienste der Göttin selbst, das kam sicherlich dem am nächsten, was sich Freiheit nannte. Vielleicht konnte sie doch noch einmal mit der Priorin sprechen.
Die Schwestern traten ein, alle in die gleichen, schlichten Gewänder gekleidet, selbst die Priorin, denn vor der Göttin waren sie alle gleich. Die Bibliothekarin trug die metallene Kassette mit dem Schlüssel zum Mutterschoß, dem tief im Berg gelegenen Heiligtum. Mit gemessenen Schritten bildeten die Heiligen Schwestern einen Halbkreis um die Tür.
Das Schloss war alt. Es knackte vernehmlich, als die Priorin den spannenlangen Schlüssel darin drehte. Sie öffnete die Tür und kühle, kalkige Luft wehte die Mädchen an. In den Fels gehauene Stufen führten nach unten, tief hinein in den Schoß des Tempelberges. Heute würden sie tiefer eindringen als je zuvor, in die Grotte, die sonst den Heiligen Schwestern vorbehalten war. Und eine von ihnen würde verändert zurückkehren, wiedergeboren als Akh’Eldash, als Hohepriesterin der Erdmutter.
Wer es wohl sein würde? Etwa Beringa, die sich schon seit Jahren auf die Ehe mit ihrem Vetter Tharundin freute? Ob die Göttin tatsächlich so grausam wäre? Vielleicht die kleine Sibyllin – jung genug, um sie zu einer idealen Gattin für einen König zu erziehen. Sicher nicht Thaja – ihre Krankheit schloss sie ebenso aus wie Lynns Alter. Es sei denn natürlich, die Göttin würde Thaja zugleich heilen. Wie wunderbar das für sie wäre!
Das erste Mädchen nahm nun eine Kerze aus der Schale und entzündete sie an der Flamme der Stundenkerze. Die Priorin tauchte ihre Fingerspitze in duftendes Öl und legte sie auf die Stirn der Kanonisse. So gesalbt betrat das Mädchen die Stufen, die ins Dunkel führten. Eine nach der anderen durchschritten die Mädchen das Tor zum Allerheiligsten.
Beringa zögerte lange.
»Du musst keine Angst haben«, flüsterte Lynn. »Du könntest die Braut des Prinzen werden, und später Königin.«
»Aber ich will nur Tharundin«, antwortete Beringa mit erstickter Stimme. »Ich bin ihm doch versprochen.«
»Überlasse dich der Göttin.« Lynn nahm tröstend ihre Hand. Himmel, wie verweint Beringas Augen waren, fast schon entzündet. »Sie wird dir nichts nehmen, wenn sie dir dafür nicht unendlich mehr schenkt. Vertraust du ihr?«
Beringa zögerte, dann nickte sie.
»So ist es gut. Hab keine Angst.« Lynn drehte sie in die Richtung der Grotte und ließ ihre Hand los. »Nun geh schon.« Sie gab Beringa einen sanften Anschub und sah ihr nach, wie sie mit unentschiedenen Schritten auf die Priorin zuging und die Kerze nahm. Lynn fing den Blick der Priorin auf. Die alte Dame nickte sachte. »Du auch, Lynneth.«
»Hohe Schwester.« Lynn straffte die Schultern. »Ihr wisst, ich sollte schon gar nicht mehr im Stift sein.«
»Doch noch bist du es.«
»Die Göttin wird mich wohl kaum erwählen, wenn schon Ihr es nicht tut.«
»Das lass die Große Mutter entscheiden.«
Mit einem stummen Seufzen fügte sich Lynn, nahm die Kerze und entzündete sie. Sie wartete, bis die Priorin das Öl auf ihre Stirn gestrichen hatte, dann betrat sie die Stufen.
Die Stufen waren in den felsigen Boden eines Ganges geschlagen, der in Windungen nach unten führte, sodass Lynn keines der vor ihr gehenden Mädchen mehr sah, doch der Klang ihrer bloßen Füße auf dem Stein hallte als geheimnisvolles Wispern zwischen den Wänden. Die Kerzenflamme flackerte und ließ Schatten über die grob behauenen Wände tanzen. Lynn schützte das Feuer mit der Hand und stieg vorsichtig weiter die kühlen Stufen hinab.
Wie jedes Mal hatte Lynn beim Abstieg in den Mutterschoß das Gefühl, die gewohnte Welt zu verlassen und in eine ganz andere Wirklichkeit einzutreten. Alles war hier anders: die Gerüche, das Licht, sogar die Töne. Sie bewegten sich anders fort, hallten von Wand zu Wand, verwoben sich ineinander wie flüsternde, fragende Stimmen, die den Fels selbst zu füllen schienen. Viel mehr Stimmen, als Mädchen diesen Ort betreten hatten.
Einmal im Jahr, am ersten Frühlingsvollmond, gingen alle Frauen des Tempels diesen Weg. Tief im Inneren der Erdmutter reinigten sie sich – ihren Körper mit dem heiligen Wasser, ihren Geist durch Gebet.
Doch heute würde es anders sein. Keine Reinigung stand ihnen bevor, sondern ein Ritual, das vor über zwanzig Jahren das letzte Mal stattgefunden hatte. Heute würde die Göttin selbst eine von ihnen berühren, und niemand wusste, wer das sein würde.
Nach gut hundert Stufen mündete der Gang in eine natürliche Grotte. Ein