Zeitkapseln - Botschaften in die Welt von morgen. Bertwin Minks
Erkenntnisse stützen insofern die Annahme ungebremsten göttlichen Wirkens. Der offenbar ständig wachsende Einfluss der dunklen Energie ließe sich im Rahmen der geschilderten Annahmen als eine Zunahme der höllischen Energieerzeugung deuteten. Die Interpretation dieser Befundlage könnte von überzeugten kosmologischen Theologen vielleicht als eine Art Gottesbeweis missverstanden werden. Eine solche Schlussfolgerung scheint jedoch verfrüht zu sein. Zur Validierung einer so weitreichenden Aussage müssen weitere überzeugende und plausible theologische Deutungen astrophysikalischer Erkenntnisse und kosmologischer Zusammenhänge gefunden und vorgelegt werden.
Dazu zählen beispielsweise die theologische Erklärung der „Big Bounce“ (großer Rückprall) – Variante des Untergangs des Standarduniversums – und die glaubenskonforme Interpretation des sogenannten „Big Slurp“ (das große Ausschlürfen).
Was das Rückprallphänomen anbetrifft, das den Zusammenstoß zweier materieller Universen postuliert, wäre es interessant, zu erfahren, wie die theologische Wissenschaft die damit möglicherweise verbundene Kollision zweier Himmelsstrukturen beurteilt. Können immaterielle Gebilde wie göttliche Sphären überhaupt miteinander wechselwirken und welche Folgen würden aufgrund einer solchen imaginären Konfrontation für die Glaubenswelt zu befürchten sein? Was geschieht bei so einem Ereignis mit den dualen Zwischenwelten Hölle und Fegefeuer? Würde das Himmelschaos vielleicht ein Glaubensinferno auslösen und die Entropie der Vielgläubigkeit beeinflussen? Das sind komplizierte geistliche Problemstellungen, die von der theologischen Wissenschaft beantwortet werden sollten!
Beim Big Slurp (das große Ausschlürfen)-Szenario handelt es sich indessen um den Übergang des Standarduniversums aus einem falschen Vakuumzustand in ein echtes Vakuum im Grundzustand. Das Phänomen kratzt an der Perfektion der Schöpfungsgeschichte. Aus theologischer Sicht scheint es sich dabei ursächlich um eine göttliche Fehlleistung während der Inflationsphase zu handeln. Wahrscheinlich sind die inflationären Ausdehnungsprozesse in einem (falschen) Higgs-Vakuum angehalten worden. So ein Missgeschick darf einem göttlichen Wesen nicht unterlaufen, denn es stellt den Fortbestand der Schöpfung infrage. Das falsche Vakuum kann durch ein energiereiches Ereignis nämlich jederzeit in den Grundzustand übergehen. Dabei wird die materielle Welt, wie die Menschen sie kennen, ausgelöscht werden. Die kosmologischen Theologen dürften daher alle Hände voll zu tun haben, um die Zweifel und Kratzer auf dem traditionellen Bild von der Allmacht und Unfehlbarkeit des Herrn in den Köpfen der Gläubigen wegzuretuschieren!
5. Die kosmologische Theologie – Ausblicke
Die festgestellte beschleunigte Ausdehnung des materiellen Kosmos wirft weitere Fragen auf. Es ist wahrscheinlich davon auszugehen, dass Himmel und Hölle nicht als statische Strukturen verstanden werden dürfen. Den wissenschaftlichen Befunden zur Dynamik und zur Lage des Standarduniversums zufolge sollten auch die Strukturen von Himmel und Hölle expandieren. Das ist für ein rein immaterielles Gebilde wie den Himmel sicherlich unproblematisch. Für das quasi-materielle gedankliche Konstrukt der Hölle dürfte der Prozess, thermodynamisch gesehen, jedoch problematisch sein und zu ernsten Konsequenzen führen. Wenn nämlich die Ausdehnung der Höllenstrukturen so groß wird, dass die Energiedichte dramatisch abnimmt, könnte die Hölle wider Erwarten eines Tages doch einfrieren. Dadurch würden auch die Dynamik des Standarduniversums und dessen prognostiziertes zukünftiges Schicksal beeinflusst werden. Wer weiß, vielleicht könnte dann doch noch ein Wechsel von einem „Big Rip“ (das große Zerreißen)-Szenario zu einer Big-Freeze“ (das große Einfrieren)- oder sogar „Big-Crunch“ (das große Zusammenkrachen)-Perspektive möglich sein?
Die kosmologischen Theologen müssten sich eigentlich auch fragen, welche göttliche Offenbarung oder welche Botschaft sich für die Seelenträger hinter diesen universalen Untergangsszenarien verbergen. Sie werden wahrscheinlich auf das jüngste Gericht verweisen, das ja das Ende der Welt bedeuten soll und damit gleichnishaft auch für das Ende des Universums steht. Dieser theologische Erklärungsansatz mag einigermaßen plausibel daherkommen, wobei die Einzelheiten des „Wie“ wohl dem Willen des Herrn überlassen werden müssen und von den Gläubigen nicht hinterfragt werden dürfen. Für das imaginäre Konstrukt des Himmels dürfte der Kollaps des Universums keine strukturellen Folgen haben, denn es bedarf wohl prinzipiell keiner materiellen Bezugsbasis. In diesem Kontext scheint die Big Crunch-Perspektive eine göttliche Vorzugsvariante darzustellen, denn sie eröffnet neben der Wiedergeburt des materiellen Universums auch die Option eines zyklischen Glaubenskosmos.
In einem multiuniversellen Rahmen werfen die Konfiguration, Entwicklung und Wechselwirkung von irdischer Welt und himmlischer Sphäre allerdings weitere Fragen auf. Nach dem Urknall, dessen plausible theologische Deutung aussteht, sind durch überlichtschnelle inflationäre Prozesse vermutlich Myriaden von Universen entstanden. Das Multiversum besteht, so die gängige Vorstellung, aus einer Vielzahl von materiell abgeschlossenen universalen Welten. Zwischen ihnen werden bislang keine physikalischen Wechselwirkungen für möglich gehalten. Theologisch gesehen bedeutet diese Annahme, dass eine ganzheitliche himmlische Sphäre für das Multiversum nicht existieren dürfte. Die an sich solide erscheinende Schlussfolgerung
ein Universum – ein Gott – ein Himmel – eine Hölle
hat im Multiversum weitreichende theologische Konsequenzen. Der Ansatz führt dort zu vielen Göttern oder wirft ein göttliches Hierarchieproblem auf. Das kann im religiösen Monotheismus nicht gewollt sein und ist theologisch nicht zu akzeptieren.
Wenn die String-Theorie recht haben sollte, gibt es ungefähr 10500 bis 101000 Lösungen für mögliche universale Welten. Es kann sein, dass die Anzahl dieser Universen im Multiversum nicht annähernd realisiert ist. Dennoch würde der monotheistische Gott-Begriff, wie ihn die irdischen Theologen geprägt haben, in der Tiefe des von der Stringtheorie aufgespannten Hyperraumes ins Nichts zerfließen. Angesichts dieser für den Glauben an ein göttliches Wesen beunruhigenden oder sogar bedrückenden Situation stehen die kosmologischen Theologen vor großen Herausforderungen. Wer weiß, ob für die skizzierten naturwissenschaftlichen Szenarien eine glaubenskonforme Erklärung und Auslegung im Einklang mit den gängigen religiösen Vorstellungen gefunden werden können? Überzeugende theologische Antworten auf die vielfältigen kosmologischen Fragestellungen und Erkenntnisse sind jedoch erforderlich, um auf lange Sicht ein Glaubwürdigkeitsproblem zu vermeiden. Andernfalls dürfte der Glaube der Menschen auf dem Planeten Erde an ein die irdischen Geschicke weise lenkendes göttliches Wesen wohl keine Zukunft haben!
3. Brief vom 12. September 2019
Anlage
Kleines Klimaflugblatt
Leipzig, 12. September 2019,
zu öffnen am 12. Juli 2036
Lieber Matti,
hallo, du in meinem Heute noch so kleiner Schatz, sei in der Zukunft ganz lieb von deinem Opa gegrüßt. Das Versenden von Botschaften in Zeitkapseln in die Welt von morgen ist schon ein aufregendes Unterfangen und darüber hinaus eine ziemlich gewöhnungsbedürftige Angelegenheit. Gestern habe ich dich noch als einen aufgeweckten dreijährigen Jungen auf den Arm genommen und versucht, mich in deine kindliche Welt hineinzudenken. Ein paar Tage später schicke ich mich an, einem jungen Mann von 20 Jahren einen Brief in die Zukunft zu senden, in dem ich mir Gedanken über ein Thema mache, das bestimmt auch noch in 17 Jahren unter den Leuten für Aufregung und Gesprächsstoff sorgen wird.
Ich hoffe, dass du in ziemlich genau 202 Monaten in der Zukunft gesund und munter daherkommen wirst. Was mich betrifft, glaube ich in meiner Zeit und meiner Welt (noch) ganz gut über die Runden zu kommen. Allerdings möchte ich mich schon heute mit dir über Dinge unterhalten, die du als Dreijähriger noch nicht verstehen kannst. Wie gern würde ich dir die Welt erklären, na ja so, wie ich sie eben verstehe! Schade, dass ich das nicht tun kann, denn es gibt halt furchtbar viele Themen, die man als Großvater glaubt, mit der Generation seiner Kindeskinder erörtern zu müssen! Insofern vermisse ich schon den Gedankenaustausch mit einem jungen Mann, der du einmal sein wirst. Das mag vielleicht ein bisschen seltsam oder komisch klingen, denn es heißt doch, dass man nichts vermissen kann, was man niemals kennengelernt hat. Nun ja, ich denke, dass ich das dennoch tue, weil ich mich mit dir als Erwachsenen nur in meinen Gedanken und Träumen unterhalten