Das Halbmondamulett.. Jens Petersen
Bedeutungslosigkeit. Etwas ganz anderes stellte sich ein, wie bei jeder Begegnung mit der Wahrheit: Ein Gefühl tiefer Befriedigung. Die natürlichste Art zu leben, nannte Ibn Al-Arabi das Reisen, da nicht das Verweilen die Natur aller Dinge im Universum sei, sondern das ständige in Bewegung sein. Mir war eher so, als wäre ich von langer Reise endlich angekommen, angekommen in einem wahren Zuhause. Das konnte nicht mehr sein, als eine vorübergehende Vision, ein Gefühl von einem Zustand zu fern und zu unbekannt, um selbst in Bildern sich auszudrücken. Doch bei all seiner Flüchtigkeit unterschied dieser Eindruck sich gar zu deutlich von üblichen Emotionen, blieb mir für immer als Erinnerung wie eingraviert. Und mit ihm die unerklärliche Gewissheit, es gäbe für mich irgendwo ein Ziel, auch wenn ich noch keinerlei Vorstellung davon hätte, ja nicht einmal einen Namen dafür. Nur die ungeheure Bedeutung begriff ich, sich dorthin zu bewegen, auch wenn selbst die einzuschlagende Richtung noch unbekannt blieb. Gewiss war überhaupt nur eines: Verweilen wäre ein Fehler. Vorübergehendes Verweilen gehörte zum Weg mit seinen Intervallen, aber völliges Stehenbleiben rührte zu so etwas wie dem Aufhören zu existieren. Weiterziehen erschien mir als etwas Elementares, ein kosmisches Gesetz, dass alles in Bewegung bleibe, in Wandlung und ständigem Fortschreiten, sei es nun reine Materie, eine Lebensform oder ein Bewusstsein mit der Fähigkeit eigener Entscheidung. Das unfassbare Chaos ringsherum zeigte auf einmal so etwas wie Vollkommenheit, die sich mir in einer Musik jenseits des Hörvermögens ausdrückte. Für einen zeitlosen Moment nahm ich mich wahr als einen Teil dieser Schwingungen. Was blieb war diese unerklärliche Gewissheit, namenlos, nicht fassbar, aber ähnlich einem erhaltenen Versprechen.
Der dritte Tag verlief nicht viel anders als der zweite, Staub, Hitze, Monotonie und bei mäßiger Geschwindigkeit im Wagen vor sich hindösen. Einige Kamelgerippe im Sand erinnerten daran, dass das Reisen hier nicht immer unproblematisch verlief, und was aus uns im Falle einer Panne werden könnte. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie versessen ich auf dieses Unternehmen war.
„Bequemer ist es ja, die Piste entlang dem Niltal zu fahren“,
feixte 0-Chang.
„Sicherer allemal.“
„Ich geb was drum, die Gesichter von den Typen in der sudanesischen Botschaft zu sehen, wenn die uns beobachten könnten, wie wir hier heimlich durch die Hintertür bei ihnen reinbrettern“,
kicherte Bernd.
„'N Rad abhaben müssten wir ja, deswegen die kostbaren Jemen-Visa verfallen zu lassen. Du hast übrigens immer noch nicht erzählt, wie du das eigentlich gedeichselt hast.“
„Ebtehag!“
„Deine und Hermanns ägyptische Kommilitonin?“
„Genau, das Mädchen hat eine einmalige literarische Begabung. Die setzt einen arabischen Text in so bestechendem Klang und Rhythmus auf, dass du ihn nur noch in ehrfürchtigem Singsang rezitierst. Sie war es auch, die mir verraten hat, wie verliebt Araber in ihre Sprache sind. Jedenfalls müssen die im Außenministerium in Sana'a so entzückt gewesen sein, dass das bislang Unmögliche geschah.“ „Wie bist du überhaupt auf den Jemen gekommen? Ich mein' inzwischen hast du uns ja alle längst angesteckt, aber woher der Jemen?“
„Neugierig wurde ich zuerst, als ich im Orient wiederholt Andeutungen auf den Jemen zu hören bekam. Wahre arabische Kultur wäre noch anzutreffen, weil sich dort, seit ihrer Blüte im hohen Mittelalter, nichts verändert habe. Auch von der "Hikma jemenija", der jemenitischen Weisheit war die Rede, und schon seit langer Zeit wollte man wissen, dass der Jemen es war, woher den Propheten "An-Nafas Ar-Rahman" erreicht hatte, der Odem des Erbarmers. Nur Genaueres wußte niemand, weil auch keiner meiner arabischen Gesprächspartner je im Jemen war.“
„Und woher dann hast du was erfahren?“
„Ich verschlang alles, was es an Büchern darüber gab.“
„Da hattest du dir was vorgenommen, wie?“
„Ach das war nicht so viel, meist Berichte von den wenigen Reisenden. Aber zwei Dinge wurden dabei immer deutlicher und ließen mich nicht mehr los.“
„Ja?“
„Ein geheimnisvolles, verschlossenes Land, in dem tatsächlich orientalisches Mittelalter noch lebendiger Alltag ist, und Berichte über eine kaum bekannte antike Hochkultur.“
„Du meinst Saba mit seiner berühmten Königin?“
„Nicht nur, da gab es noch die Reiche von Kataba, Ausan und Himjar und noch früher die der Minäer und Hadramoten. Allein was von den wenigen wagemutigen Reisenden entdeckt und berichtet wurde, lässt auf hunderte antiker Fundstätten schließen, ganzer Städte, Tempel, Befestigungen und ausgeklügelter Bewässerungssysteme. Unzählige Inschriften waren gefunden. Immer deutlicher wurde, dass ein ganzer Kulturkreis in diesem entlegenem Teil der Welt verborgen liegt.
„Und das alles ist noch kaum erforscht?“
„Nach allen mir bekannten Berichten war es noch niemandem zuvor gestattet, so ohne Beschränkungen durch den Jemen zu reisen. Es sieht so aus, als wäre das Glück der Stunde mit uns. Übrigens, auch für den anderen Teil des antiken Südarabien haben wir eine vorläufige Zusage der Protektoratsverwaltung in Aden.“
„Dann wären wir die ersten, die sich da unbehelligt umsehen könnten?“
„Noch sind wir nicht da. Das Land hieß nicht umsonst über Jahrhunderte "das Verbotene". Alle Reisenden trafen bislang auf merkwürdige Hindernisse schon bei dem Versuch dort hinzugelangen. Wir sind ja auch gerade dabei, das erste zu überwinden.“
Es war der Morgen des vierten Tages nach Marsa Alam. Wir studierten wieder einmal Karte und Tachometer mit dem Entschluss, ein weiteres, großzügiges Umfahrmanöver zu beginnen, da Halaib nicht mehr weit sein konnte. Gerade eben hatten wir damit begonnen, als aus den Sandverwehungen Männer auf schnellen Reitkamelen auftauchten. Das Gasgeben hätte Bernd sich sparen können. Es entsprach wohl auch mehr einem unwillkürlichen Fluchtreflex, denn dass da nichts Gutes auf uns zukam, war gar zu deutlich.
Die Stadt der Dschinns
Dschinns, das sind, wie hinlänglich aus den einschlägigen Geschichten bekannt, Geister und zwar keine guten. In den Tausend und einen Nächten wimmelt es nur so von ihnen. Sie sind jedoch nicht so fürchterlich wie Devs, vor denen man — wie ebenfalls dort nachzulesen — besser gleich auf Knie und Angesicht fällt, um sie respektvoll mit Dev-Effendi oder Dev-Hadratak je nach örtlichen Gepflogenheiten anzureden. Diese ausgewachsenen Dämonen scheinen, wie alle sonstigen unreinen Geister, besonders eitel zu sein und großen Wert zu legen auf bei jeder Gelegenheit entgegengebrachte Ehrfurchtsbezeugungen. An weiteren Fürchterlichkeiten gibt es da noch Ifrits, denen man teilweise nachsagt, sie wären auf Jungfrauen fixiert, oder Ghuls, die so abartig veranlagt sind, dass man besser gar nicht erst von ihnen redet. Wenn es einmal hart auf hart kommen sollte, so ist derjenige fein heraus, der in solch einem Augenblick das "Mu'auwidatan" zitieren kann. Aus glaubhaften Quellen wird versichert, wie daraufhin solchen Kreaturen ganz anders werde.
Von besagten Dschinns ist bekannt, dass sie nicht derart beängstigend übermächtig sind, sehr wohl aber in der Lage arglosen Reisenden einen fürchterlichen Schrecken einzujagen. Ja von Haus aus scheinen sie sich geradezu an allerlei Schabernack gegenüber Menschen zu ergötzen.
Über Suakin wussten wir bislang nur, dass es eine Geisterstadt war, nicht aber, dass dort auch Geister wohnten.
In den letzten Tagen hatte es starke Regenfälle gegeben, was in diesen Gegenden sehr selten war, und so wurde unsere Fahrt durch die nicht endenden Pfützen des ungepflasterten Weges auf beiden Seiten des Wagens von erhabenen Wasserspielen begleitet. Wir gelangten an eine Bucht, in der sich das Bleigrau des Himmels wiederholte, und mitten darin lag kalkig weiß Suakin. Auf der anderen Seite angelangt hielt der Weg direkt auf die Stadt zu, der wir jetzt schnell näher kamen. Nun sahen wir auch, was es war, das der Ferne auf uns so anders und befremdlich erschien. Die meisten Gebäude, besonders die an der Wasserseite gelegenen, waren teilweise eingefallen. Einzelne Mauern oder Reste davon standen herum wie Zahnstümpfe in unregelmäßigem Rhythmus